Springe direkt zu Inhalt

Die tröstende Kraft der Objekte

Der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk präsentierte im Rahmen der Szondi Lecture an der Freien Universität sein „Museum der Unschuld“

02.11.2017

Nach seinem Vortrag und einem Gespräch signierte Orhan Pamuk.

Nach seinem Vortrag und einem Gespräch signierte Orhan Pamuk.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

2006 hat er den Nobelpreis für Literatur erhalten, 2007 wurde er mit der Ehrendoktorwürde der Freien Universität ausgezeichnet. Für die diesjährige Peter Szondi Lecture des Instituts für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Kooperation mit dem Zentrum Marc Bloch kehrte der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk vor zwei Wochen nach Dahlem zurück. Um von einem Herzensprojekt zu berichten und sich den Fragen der vielen Zuhörerinnen und Zuhörer zu stellen: Mit dem „Museum der Unschuld“ – sowohl der Titel seines Romans als auch ein von Pamuk kuratiertes Museum in Istanbul – überwindet der Autor die Grenzen zwischen verschiedenen Kunstformen einerseits und Realität und Fiktion andererseits.

Fast zwanzig Jahre habe er sich mit dem „Museum der Unschuld“ befasst, erklärte Pamuk seinem staunenden Publikum. Hintergrund sei die Idee gewesen, „einen Roman zu schreiben, der einem Museumskatalog ähnelt“: „Ich wollte gleichzeitig einen Roman schreiben und ein Museum entwerfen“, erinnerte sich Pamuk. Der Roman sollte herauskommen, wenn das Museum eröffnet wird – eine Idee, die bei Freunden und Verwandten zunächst auf wenig Anklang gestoßen sei, berichtete der Schriftsteller lachend: „Sie sagten: Bitte sei vernünftig und mach das nicht!“

Füllt den Hörsaal: „From the Epic to the Novel – the Museum of Innocence in Istanbul" war der Titel der Szondi Lecture, die Orhan Pamuk Ende Oktober an der Freien Universität hielt.

Füllt den Hörsaal: „From the Epic to the Novel – the Museum of Innocence in Istanbul" war der Titel der Szondi Lecture, die Orhan Pamuk Ende Oktober an der Freien Universität hielt.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Allen Warnungen zum Trotz machte sich der Autor auf die Suche nach Gegenständen, die Roman und Museum bevölkern sollten und anhand derer sich eine Geschichte erzählen ließe. Das erste Objekt in Pamuks Sammlung: ein verfallenes Haus in einem heruntergekommenen Stadtteil Istanbuls. Das Haus wurde der Ort des realen „Museums der Unschuld“ und zugleich der Ankerpunkt der Romanhandlung.

„Die Geschichte, die ich erzähle, ist im Grunde eine einfache Liebesgeschichte, wie sie in melodramatischen, türkischen Liebesfilmen erzählt wird“, sagte Pamuk. Der Protagonist Kemal, ein Mann aus der Mittelschicht, verliebt sich in eine entfernte Verwandte aus einfachen Verhältnissen. Jahrelang besucht er die Angebetete, beginnt, alle Gegenstände zu sammeln, mit denen sie in Berührung kommt, und eröffnet schließlich ein Museum, das die Sammlung zeigt.

2008 veröffentlichte Pamuk den Roman „Museum der Unschuld“, in dem als Teil der Geschichte einer unglücklichen Liebe die Gründung eines Museums beschrieben wird. 2012 folgte die Eröffnung des realen Museums in Istanbul (Foto oben).

2008 veröffentlichte Pamuk den Roman „Museum der Unschuld“, in dem als Teil der Geschichte einer unglücklichen Liebe die Gründung eines Museums beschrieben wird. 2012 folgte die Eröffnung des realen Museums in Istanbul (Foto oben).
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Um das Museum und den Roman mit Gegenständen zu bevölkern, streiften Orhan Pamuk und engagierte Helfer jahrelang über Istanbuls Märkte und durch Geschäfte, gingen zu Auktionen und Wohnungsauflösungen. „Ich fragte mich bei jedem Gegenstand, den ich interessant fand: Kann ihn eine meiner Romanfiguren benutzen? Es gab auch Objekte, die ich wunderschön fand, die ich aber einfach nicht unterbringen konnte.“

Nach und nach habe das Projekt immer mehr Raum eingenommen: In den Jahren 2010 und 2011 sei er fast ausschließlich damit beschäftigt gewesen, erinnerte sich der Schriftsteller. „Das Buch ist schon 2008 erschienen, aber das Museum wurde erst 2012 fertig. Das Projekt wurde einfach immer größer und größer.“ Als schwierig habe sich etwa die Frage erwiesen, nach welchem Prinzip die Gegenstände im Museum ausgestellt werden sollten. „Das Buch hat 83 Kapitel, und so habe ich mich schließlich entschieden, auch die Gegenstände im Museum in 83 Untereinheiten zu gruppieren und auszustellen: in Fenstern, Vitrinen, Kisten, auf den Balustraden. Jedes Objekt korrespondiert mit einem bestimmten Moment im Roman.“

Ausgestellt ist dabei sowohl Alltägliches wie Küchengeräte, Lampen und Fotografien, gezeigt werden aber auch ausgefallenere Objekte. „Der Protagonist des Buches beobachtet die Angebetete wiederholt beim nervösen Zigarettenrauchen und stellt fest, dass jede im Aschenbecher ausgedrückte Zigarette eine andere Form hat“, führte Pamuk ein Beispiel an. Hunderte Zigarettenkippenattrappen sind deshalb auch im Museum zu besichtigen – jede einzelne von ihnen mit einem Schriftzug unterlegt, der den Moment des Rauchens spezifiziert. „Kemal geht seiner Sammelleidenschaft mit der Energie eines Verliebten nach“, erklärte der Schriftsteller. Ärger, Stille, die Art, wie sich die Geliebte in den sieben Jahren bewegte, in der Kemal sie besucht hat – alles sei festgehalten worden. „In Objekten findet der Protagonist Trost.“

Im Mai 2007, war Orhan Pamuk mit der Ehrendoktorwürde des Fachbereichs Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität ausgezeichnet worden. Zehn Jahre später kehrte er nach Dahlem zurück.

Im Mai 2007, war Orhan Pamuk mit der Ehrendoktorwürde des Fachbereichs Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität ausgezeichnet worden. Zehn Jahre später kehrte er nach Dahlem zurück.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Beim Kuratieren des Museums sei es ihm auch darum gegangen, auf die „großen Geschichten“, die üblicherweise in Museen erzählt würden, zu verzichten, sagte Pamuk. „Da werden die Geschichten von Nationen, ihren Reichtümern, ihrem Aufstieg und ihrem Untergang erzählt. Aber was ist mit der Humanität des Einzelnen, was mit der Ehre unseres kleinen, alltäglichen Lebens?“ Das habe er im „Museum der Unschuld“ in den Mittelpunkt stellen wollen, sagte der Autor.

Wie kaum einem anderen Schriftsteller gelänge es Orhan Pamuk, Orte vor dem inneren Auge des Lesers lebendig zu machen, sagte Professor Georg Witte vom Peter-Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in seiner Einführung. „Ich habe das Gefühl, selbst über einige Straßen gegangen zu sein, die der liebessüchtige Protagonist des Romans durchstreift.“ So eröffneten die Werke Pamuks die Möglichkeit, das Leben anderer Menschen als das eigene zu erleben. „Was zunächst banal erscheint, erweist sich hier als in Wirklichkeit basal. Man taucht ein in die Lebenserfahrungen anderer Menschen.“ Der Geschichte um eine große Liebe auch über die reine Imaginationskraft eines Lesers hinaus nachzuspüren, macht das reale Museum in Istanbul möglich: Dort können sich Interessierte von der tröstenden Kraft der Objekte überzeugen.