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Der Populismus der Mitte

In der Reihe „Wissenschaft trifft Politik“ diskutierten die Grünen-Politikerin Claudia Roth und der britische Botschaftsvertreter Nick Pickard mit Wissenschaftlern der Freien Universität

01.07.2015

v.l.n.r.: Nick Pickard, Prof. Markus Tiedemann, Gerd Appenzeller, Prof. Hajo Funke, Claudia Roth

v.l.n.r.: Nick Pickard, Prof. Markus Tiedemann, Gerd Appenzeller, Prof. Hajo Funke, Claudia Roth
Bildquelle: Mike Wolff

Dei Grünen-Politikerin Claudia und der Politikwissenschaftler Hajo Funke

Dei Grünen-Politikerin Claudia und der Politikwissenschaftler Hajo Funke
Bildquelle: Mike Wolff

Der Stellvertreter des britischen Botschafters, Nick Pickard

Der Stellvertreter des britischen Botschafters, Nick Pickard
Bildquelle: Mike Wolff

Markus Tiedemann, Professor am Institut für Vergleichende Ethik der Freien Universität

Markus Tiedemann, Professor am Institut für Vergleichende Ethik der Freien Universität
Bildquelle: Mike Wolff

Was hält Europa im Kern zusammen? Welche Werte verbinden seine mittlerweile 28 Mitglieder? Und welche Folgen hat es, wenn innerhalb der Staatengemeinschaft auf komplexe Probleme allzu simple Antworten gegeben und Parolen formuliert werden? „Als leidenschaftliche Europäerin mache ich mir große Sorgen“, sagte Claudia Roth zu Beginn der gemeinsamen Gesprächsrunde von Tagesspiegel, Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa und Freier Universität Berlin über das Thema „Profiteure der Angst: Warum wächst der Populismus in Europa?“. „Wir brauchen einen starken europäischen Akteur, aber kein Europa der Vaterländer“, sagte die Grünen-Politikerin und Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages.

Ganz gleich, um welches Thema im Speziellen es in den politischen Diskussionen dieser Tage geht – die Griechenland-Krise schwingt immer mit. Diskutiert man aber über Populismus ausgerechnet an dem Tag, an dem die griechischen Banken ihre Türen schließen und der griechische Regierungschef kurz zuvor das griechische Volk aufgerufen hat, in einem Referendum darüber abzustimmen, ob es dem von den Gläubigern vorgelegten Sparkonzept zustimmt, kommt man um das Thema nicht herum.

Populismus in und wegen Europa

Moderator Gerd Appenzeller, ehemaliger Herausgeber des Tagesspiegels, fragte das Podium, ob es Populismus in oder wegen Europa gäbe. Eine Populismus-Vorlage hatte wenige Tage zuvor der Vorsitzende der deutschen Sozialdemokratie geliefert. Gegenüber der BILD-Zeitung hatte Sigmar Gabriel geäußert: „Wir werden nicht die überzogenen Wahlversprechen einer zum Teil kommunistischen Regierung durch die deutschen Arbeitnehmer und ihre Familien bezahlen lassen.“ Für Claudia Roth ein Beleg dafür, dass Populismus keine Erscheinung an den Rändern des Parteienspektrums ist. Und dass Populismus in und wegen Europa eng miteinander verknüpft ist.

 „Ängste ernstnehmen ja, Ängste schüren nein"

Auch Politikwissenschaftsprofessor Hajo Funke zeigte sich empört über Gabriels populistische Äußerung. Ängste ernstnehmen ja, Ängste schüren nein: Das war der gemeinsame Nenner, auf den sich die Runde einigen konnte. Ab wann die Grenze zum Populismus – eine „rote Linie“ – überschritten sei, blieb aber strittig. Markus Tiedemann, Professor für Fachdidaktik des Ethik- und Philosophieunterrichts an der Freien Universität, schlug vor, dass Populismus nur dann akzeptabel sei, wenn dieser sich nicht einer kritischen Überprüfung entziehe.

Er plädierte deshalb dafür, auch populistische Äußerungen ernsthaft zu diskutieren, da man sonst Gruppierungen wie Pegida oder eurokritischen Parteien wie der britischen Ukip noch mehr Auftrieb geben würde.

Claudia Roth ärgerte sich nicht nur über den Vorsitzenden der SPD, sondern auch über den der CSU, Horst Seehofer. „In Sachsen brennen die Unterkünfte, und Herr Seehofer redet von massenhaftem Asylmissbrauch“, sagte sie. Die langjährige Bundestagsabgeordnete sprach von einer Mitverantwortung der Volksparteien an einem wachsenden Populismus.

Der Kitt, der Europa zusammenhält

„Freizügigkeit von Kapital, Waren, Dienstleistungen und Personen gehört zu den wichtigsten Errungenschaften, die es innerhalb Europas zu bewahren gilt“, sagte Roth und plädierte dafür, anstelle der institutionell geprägten Debatten den Mehrwert Europas für den Einzelnen sichtbarer zu machen. Ihr Vorschlag: Man müsse die Bürgerinnen und Bürger stärker beteiligen, wie beispielsweise bei der Formulierung der seit Dezember 2000 rechtskräftigen Grundrechte-Charta der Europäischen Union.

Bis die Briten ihre distanzierte Haltung zu Europa aufgeben würden, bleibe es ein weiter Weg, sagte Nick Pickard: „Europa ist nicht das Hauptanliegen der Briten.“ Er betonte, dass die Aufgabe von Souveränität in Großbritannien ein heikles Thema sei.

Ob Europa dann ein neues Narrativ brauche, eines, das uns allen die Vorteile von Europa näherbringe, wollte Gerd Appenzeller wissen. „Das älteste Narrativ ist Frieden“, sagte Markus Tiedemann. Das fände sich schon in der Antike in den Reden des athenischen Staatsmannes Perikles. Und das sollte – trotz aller Differenzen – für Europa prägend bleiben.

Weitere Informationen

Diskussionsreihe „Wissenschaft trifft Politik“

Die Diskussionsreihe ist im Frühjahr 2013 gestartet. Sie ist auf Anregung der Freien Universität Berlin entstanden und wird von ihr, dem „Tagesspiegel“ und der „Schwarzkopf Stiftung Junges Europa“ gemeinsam veranstaltet. Die Freie Universität will mit der Reihe an ihre lange Tradition als politisches Diskussionsforum anknüpfen.

Bisherige Veranstaltungen