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„Die arabische Welt ist kein Pulverfass“

Diskussionsveranstaltung zum Nahen Osten in der Reihe „Wissenschaft trifft Politik“

12.12.2013

Diskutierten über die jüngsten Entwicklungen im Nahen Osten: Rolf Mützenich, Cilja Harders, Volkmar Wenzel und Gudrun Krämer (v.l.n.r.)

Diskutierten über die jüngsten Entwicklungen im Nahen Osten: Rolf Mützenich, Cilja Harders, Volkmar Wenzel und Gudrun Krämer (v.l.n.r.)
Bildquelle: Mike Wolff / Tagesspiegel

Peter-André Alt, der Präsident der Freien Universität, begrüßte die 150 Zuhörer der Veranstaltung unter dem Motto „Pulverfass Naher Osten – Wird der Freiheitstraum zum Albtraum?“

Peter-André Alt, der Präsident der Freien Universität, begrüßte die 150 Zuhörer der Veranstaltung unter dem Motto „Pulverfass Naher Osten – Wird der Freiheitstraum zum Albtraum?“
Bildquelle: Mike Wolff / Tagesspiegel

Diskutiert wurde über den Arabischen Frühling und die einzelnen Länder der arabischen Welt

Diskutiert wurde über den Arabischen Frühling und die einzelnen Länder der arabischen Welt
Bildquelle: Mike Wolff / Tagesspiegel

„Wissenschaft trifft Politik“. So lautet der Titel der gemeinsamen Diskussionsreihe des Tagesspiegel, der Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa und der Freien Universität Berlin. Die dritte Veranstaltung stand unter dem Motto „Pulverfass Naher Osten – Wird der Freiheitstraum zum Albtraum?“. Gudrun Krämer, Professorin für Islamwissenschaft und Leiterin des gleichnamigen Instituts der Freien Universität, und Cilja Harders, Professorin für Politikwissenschaft und Leiterin der Arbeitsstelle Politik des Vorderen Orients, diskutierten mit dem außenpolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Rolf Mützenich und Volkmar Wenzel, dem Persönlichen Beauftragten des amtierenden Bundesaußenministers Guido Westerwelle für die Arabische Welt. Moderiert wurde die Runde von Stephan-Andreas Casdorff, einem der beiden Chefredakteure des Tagesspiegel.

Der Große Saal im Verlagsgebäude des Tagesspiegel war bis auf den letzten Platz belegt: 150 Zuhörer waren gekommen, um mehr über den Arabischen Frühling, das Aufbegehren der Bevölkerung in Teilen der arabischen Welt Anfang 2011 und die einzelnen Länder der arabischen Welt zu erfahren. Universitätspräsident Professor Peter-André Alt freute sich in seiner Begrüßung über das Interesse an der Diskussionsreihe und betonte die Verantwortung, die eine überwiegend aus öffentlichen Mitteln finanzierte Institution wie die Freie Universität der Öffentlichkeit gegenüber habe.

Gleich zu Beginn der von Stephan-Andreas Casdorff lebhaft geführten Diskussion machte Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer darauf aufmerksam, dass die einzelnen arabischen Länder nicht gleichzusetzen seien. Auch wenn Libyen nicht zu funktionierenden staatlichen Strukturen finde, sage das wenig über Ägypten aus. Volkmar Wenzel, Persönlicher Beauftragter des Bundesaußenministers für die Arabische Welt, sprach mit Blick auf die Unterschiede in der Region von einem Flickenteppich statt einem Pulverfass. Gudrun Krämer kritisierte die im Westen verbreitete öffentliche Wahrnehmung der arabischen Welt, die davon ausgehe, dass ein Pulverfass kurz vor der Explosion stehe. „Davon ist schon seit den 1970er Jahren die Rede.“ Sie sieht die arabische Welt nicht in einer solchen Lage – das zeige auch der historische Vergleich der Region mit der weitaus gewalttätigeren Geschichte Europas im 20. Jahrhundert.

Cilja Harders hob hervor, dass der Fremdenhass in Europa auf dem Vormarsch sei und es eine starke mediale Dramatisierung der Flüchtlingsströme gebe. Mit Blick auf die arabischen Länder betonte die Politikwissenschaftlerin, dass schnelle Wahlen in der Region nicht hilfreich seien. Diese Ansicht teilte der SPD-Außenpolitiker Rolf Mützenich: „Die Parteien, die antreten, sind nicht zu Kompromissen bereit.“ Es sei deshalb nötig, in der Region den Kompromiss als demokratisches Prinzip zu forcieren. Zugleich betonte Mützenich, dass die Erfahrungen des Arabischen Frühlings den jeweiligen Bevölkerungen nicht mehr zu nehmen seien.

In Frankreich wurde das Frauenwahlrecht erst 1944 eingeführt

Auf die schleppende Entwicklung hin zur Demokratie in Ägypten angesprochen, gab Cilja Harders zu bedenken: „Eine einzige Wahl kann doch nicht 30 Jahre Diktatur wegwischen.“ So sei in Frankreich trotz der Revolution im Jahre 1789 das Frauenwahlrecht erst 1944 eingeführt worden. Ihre Kollegin Gudrun Krämer betonte außerdem, dass manche Werte – etwa Freiheit – in der Region anders gewichtet würden als im Westen. So gebe es ein konservativeres Frauen- und Familienbild. Es handele sich allerdings nicht um ein „Unterdrückungsbild“. „In Ägypten steht beispielsweise zurzeit die soziale Frage im Vordergrund. Es mangelt nicht an finanziellen Mitteln, sondern an Visionen“, sagte Gudrun Krämer. Denn die Bevölkerung verlange mehr von ihren Eliten. Volkmar Wenzel sagte, der arabischen Welt mangele es an einer Perspektive – anders als bei den osteuropäischen Staaten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, deren Ziel es war, Mitglied in der Europäischen Union zu werden.

„Der Westen besitzt nicht die politische und wirtschaftliche Macht, die arabischen Staaten aufzunehmen und sie zu einem Teil seiner selbst zu machen“, sagte Harders. Dabei gibt es gewichtige Probleme in der Region, wie Volkmar Wenzel ausführte: Durch den Bürgerkrieg in Syrien seien beispielsweise im Libanon bereits zwei Millionen Flüchtlinge aus Syrien untergekommen. In den öffentlichen Schulen stellten die syrischen Kinder bereits 70 bis 80 Prozent der Schüler, sagte Wenzel, der unter anderem deutscher Botschafter in Syrien und Saudi-Arabien war.

„Fragen sie danach, was die einzelnen Parteien und Akteure dazu sagen“

Auf die Frage eines Zuhörers, ob der Koran und damit der Islam überhaupt mit der Demokratie vereinbar sei, antwortete Gudrun Krämer: „Wir sollten nicht auf die großen Bücher der Weltreligionen schauen.“ So blicke bei der Berichterstattung über die Proteste in Thailand auch niemand auf die heiligen Bücher des Buddhismus oder bei den Protesten in der Ukraine in die Bibel. „Fragen sie nicht, was der Koran zu einzelnen Fragen sagt, sondern danach, was die Parteien und Akteure sagen“, appellierte Krämer. „Zurzeit ist in Teilen der Region eine Diskussion darüber im Gange, welchen Platz die Religion im Staat haben soll“, konstatierte Volkmar Wenzel.

Mit Blick auf Syrien zeigte sich der SPD-Politiker Rolf Mützenich selbstkritisch: „Vielleicht waren wir an einigen Stellen zu euphorisch.“ So habe er persönlich den Präsidenten des Landes, Baschar al-Assad, unterschätzt, weil er nicht damit gerechnet hatte, dass al-Assad dermaßen hart gegen seine eigene Bevölkerung vorgehen würde. Mützenich kritisierte die deutschen Rüstungsexporte in die arabische Welt. So verstoße beispielsweise das Geschäft über die Lieferung von Panzern nach Saudi-Arabien seiner Meinung nach gegen die geltenden Richtlinien für Rüstungsexporte.

Nach dem Iran gefragt unterstrich der SPD-Außenpolitiker, dass der Iran weniger Einfluss auf die Region habe als gemeinhin gedacht. Zugleich betonte er mit Blick auf die Verhandlungen in Genf, wo es zum ersten Mal seit 30 Jahren zu einem direkten offiziellen Kontakt des Irans mit den USA gekommen war, auf die Aktualität des Prinzips des Wandels durch Annäherung. Die Gespräche mit dem Land seien ein Versuch, das „iranische Pulverfass“ durch Verhandlungen zu entschärfen.