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Wikileaks: Vom Fluch oder Segen radikaler Informationsfreiheit

Podiumsdiskussion des John-F.-Kennedy-Instituts für Nordamerikastudien der Freien Universität Berlin zu Wikileaks-Enthüllungen

17.12.2010

Diskutierten über die Enthüllung der "confidential documents" durch Wikileaks: Dr. Constanze Stelzenmüller, Holger Stark, Dr. Andreas Etges, Mitchell Moss, Markus Kienscherf (v.l.n.r.).

Diskutierten über die Enthüllung der "confidential documents" durch Wikileaks: Dr. Constanze Stelzenmüller, Holger Stark, Dr. Andreas Etges, Mitchell Moss, Markus Kienscherf (v.l.n.r.).
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Die Nachrichten zu Wikileaks überschlagen sich: Gerade wurde der Gründer der Online-Plattform Julian Assange gegen Kaution aus der Untersuchungshaft entlassen. Die US-Regierung versucht nach der Enthüllung brisanter „confidential documents“ weitere Veröffentlichungen zu verhindern. Im Netz tobt ein Cyber-Krieg zwischen Wikileaks-Anhängern und Firmen, die die Plattform finanziell zu blockieren zu versuchen.

Andreas Etges vom John –F.- Kennedy Institut, der die Veranstaltung „(Un)Classified: Wikileaks, DER SPIEGEL und die amerikanische Außenpolitik“ moderierte, begrüßte die geladenen Experten: Mitchell Moss, Presseattaché der US-Botschaft in Deutschland sowie Holger Stark, Leiter des Berliner SPIEGEL-Büros und Mitautor der Artikel über die von Wikileaks veröffentlichten US-Depeschen und Dokumente zum Irakkrieg. Constanze Stelzenmüller, Senior Transatlantic Fellow des German Marshall Fund in Berlin und Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirates der Deutschen Stiftung Friedensforschung, gehörte ebenso zu der Diskussionsrunde wie Markus Kienscherf, Doktorand an der Graduate School of North American Studies der Freien Universität.

Welchen Neuigkeitswert tragen die Dokumente?

„Wir sind nicht verantwortungsbewusst genug mit unseren Dokumenten umgegangen und dafür verantwortlich, dass Vertrauliches ans Licht kommen konnten “, sagte US- Presseattaché Mitchell Moss. „Das ist peinlich.“ Allerdings sollten die Tragweite und der inhaltliche Neuwert der bisher veröffentlichen US-Dokumente auch nicht überbewertet werden: „Es besteht kein großer Unterschied zwischen der öffentlichen US-Politik und den Inhalten der – wie Moss sagte – vermeintlichen Wikileaks-Dokumente. Der Skandalfaktor halte sich bisher in Grenzen, schwerwiegende Auswirkungen auf die diplomatischen Beziehungen zwischen den Ländern seien derzeit nicht absehbar. 

SPIEGEL–Journalist Holger Stark sah das naturgemäß etwas anders: Er misst den enthüllten Geheimdokumenten durchaus hohe Relevanz zu. Als Beispiele nannte er die veröffentlichten Informationen: etwa zum FDP-Fall um Guido Westerwelles Büroleiter Helmut Metzner, zum UNO-Spionageskandal, nachdem UNO-Mitarbeiter im Auftrag der US-Regierung ausspioniert worden seien sowie zu den Enthüllungen während des Klima-Gipfels in Cancún. Hier hätten die USA Wikileaks zufolge mit Entwicklungshilfeangeboten kleine Inselstaaten zur Unterschrift unter ein Abkommen drängen wollten, das in den Augen von Klimaschützern deren Untergang bedeutet.

Zwischen Verantwortung und Informationsfreiheit

Mitchell Moss kritisierte vor allem die Veröffentlichungstaktik von Wikileaks: „Wir betreten hier Neuland.“ Die herkömmlichen Informationsmedien zeichnen sich Moss zufolge in ihrer Berichterstattung durch einen verantwortungsbewussten Umgang mit prekären Informationen aus. Die sorgfältige Abwägung zwischen einem „legitimen öffentlichen Interesse“ an Information und den womöglich verheerenden negativen Auswirkungen auf die Sicherheit eines Staates und dessen Wirtschaft seien ein wichtiger Aspekt im Prozess der Nachrichtenvermittlung. „Wikileaks aber wägt nicht ab“, sagte der US-Diplomat. Es stehe für „radikale, anarchistische“ Transparenz.

Auf der Suche nach der Wahrheit

Holger Stark betonte dagegen, es gebe ein „legitimes öffentliches Interesse“: Die Kluft zwischen dem öffentlichen politischen Handeln und den „Geheimverhandlungen“, die hinter den Kulissen stattfänden, müsse überwunden werden zugunsten des politischen Gesprächs.

Markus Kienscherf, Doktorand an der Graduate School of North American Studies an der Freien Universität, ging noch einen Schritt weiter: „An jeder Regierungsentscheidung über Krieg und Frieden besteht ein berechtigtes öffentliches Interesse.“ Andernfalls könnten Kriegsentscheidungen, wie sie im Falle des Irak-Einsatzes getroffen worden seien, mit Argumenten  gerechtfertigt werden, „die im besten Falle beschönigen, im schlimmsten Falle dreist gelogen sind“.

Zudem habe auch bei Wikileaks ein Abwägungsprozess stattgefunden, schließlich seien nicht alle Afghanistan-Dokumente veröffentlicht worden. Die enge Zusammenarbeit zwischen Wikileaks, dem SPIEGEL und der britischen Tageszeitung „The Guardian“  sichere die nötige redaktionelle Begleitung der Geheimdokumente: „Hier zeigt sich, dass investigativer Journalismus bei der Bereitstellung von prekärem Rohmaterial immer noch von besonderer Wichtigkeit ist.“

Wieviel Privatsphäre brauchen Regierungen?

Mitchell Moss hielt dagegen, dass Regierungen zwar kein direktes Recht auf Privatsphäre hätten, doch auch einen „privaten“ Raum bräuchten, in dem vertraulich gearbeitet werden könne. Auch Constanze Stelzenmüller bezeichnete einen „geschützten Raum“ als notwendige Grundlage für eine funktionierende Diplomatie: „Es kann nicht von öffentlichem Interesse sein, alles an die Öffentlichkeit zu kehren“, sagte die ehemalige ZEIT-Journalistin. „Dazu sind viele Themen einfach zu heikel.“ 

Wikileaks schafft keine Realität

Das Problem bestehe vor allem darin, dass viele Leser der Wikileaks-Dokumente glaubten, die „Gesamtheit der diplomatischen Aktivitäten eines Landes“ vor sich zu haben, sagte Stelzenmüller: „Vor dieser Illusion muss man auf der Hut sein.“ Es sei wichtig, solche Texte mit Erfahrung zu lesen und in den richtigen Kontext einzubinden.

Was bleibt geheim?

Das letzte Wort im Fall Wikileaks ist noch lange nicht gesprochen. Welche neuen Informationen die Plattform als nächstes preisgeben wird, bleibt abzuwarten. Dass sich der diplomatische Diskurs durch Wikileaks verändert hat, ist unbestritten. Denn Geheimes bleibt durch Wikileaks nur noch mit erhöhter Vorsicht auch morgen noch geheim.