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Was ist wirklich?

Der Literaturwissenschaftler Hans-Ulrich Gumbrecht, Mitglied des Internationalen Wissenschaftlichen Beirats der Friedrich-Schlegel-Graduiertenschule, hielt einen Vortrag an der Freien Universität

21.12.2009

Hans-Ulrich Gumbrecht ist Mitglied des Internationalen Wissenschaftlichen Beirats der Friedrich-Schlegel-Graduiertenschule

Hans-Ulrich Gumbrecht ist Mitglied des Internationalen Wissenschaftlichen Beirats der Friedrich-Schlegel-Graduiertenschule
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit in der Literatur waren Thema eines Vortrags des Literaturwissenschaftlers Hans-Ulrich Gumbrecht an der Freien Universität. Der Professor an der kalifornischen Stanford University sprach zum Auftakt eines Workshops über „Das Unwahrscheinliche“ an der Friedrich-Schlegel-Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien.

Dicht an dicht saßen Doktoranden, Studierende und Professoren im Seminarzentrum der Freien Universität, um gebannt den Worten des Mannes mit einer der steilsten wissenschaftlichen Karrieren zu lauschen: Der 1948 geborene Hans-Ulrich Gumbrecht wurde im Alter von nur 23 Jahren promoviert, hatte sich mit 26 Jahren habilitiert und eine Professur an der Universität Bochum angetreten. Seit nunmehr 20 Jahren lehrt und forscht der heute 61-Jährige an der Stanford University.

Zu Beginn seines Vortrags schlug der Literaturwissenschaftler folgende Definitionen von Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit vor: Wenn man Wahrheit als eine Form von Wirklichkeitsrepräsentation begreife, könne ein Inhalt als wahrscheinlich gelten, der einen generellen Eindruck von Wahrheit intensiviere oder übererfülle. Als unwahrscheinlich gilt laut Gumbrecht im Umkehrschluss ein Inhalt, der den Eindruck der Wahrheit nicht erfüllen kann oder will.

Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit werden in jeder Epoche neu definiert

Darüber hinaus betonte der Wissenschaftler, dass das Begriffspaar Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit in keiner ahistorischen Definition aufgehen würde, sondern dass die Begriffe auch innerhalb einer literarischen Epoche Werk für Werk betrachtet werden müssten. Um dies zu verdeutlichen, griff Gumbrecht einzelne Werke von der Antike bis zur Gegenwart heraus und ordnete diese historisch und literarisch ein.

Bei Aristoteles sei es vor allem darum gegangen, die Logik der Dinge verständlich zu machen und deren ästhetische Notwendigkeit herauszuarbeiten. In der späteren mittelalterlich-höfischen Literatur hingegen hätte nicht die Logik, sondern die Struktur der Dinge im Mittelpunkt gestanden: „Wenn man etwas, das unwahrscheinlich erscheint, strukturiert, dann hinterlässt es den Eindruck, wahrscheinlicher zu sein“, sagte Gumbrecht.

Das 19. Jahrhundert sei gekennzeichnet durch Selbstreflexivität und narrative Diskurse: „Im Realismus des 19. Jahrhunderts geht es um die vielfältige Auseinandersetzung mit der Inkompatibilität zwischen Wahrnehmung und Perspektivismus.“ Während sich der Leser in einigen Werken dieser Epoche die Welt narrativ aneignen könne, führe etwa in Gustave Flauberts Roman „Madame Bovary“  die Fortschreibung der Narration eben nicht zu einer Lösung oder Einsicht: „Flaubert zeigt, dass Wahrscheinlichkeit nur eine Pluralität an Perspektiven bedeutet, die nicht miteinander konvergieren.“

Gewebe aus komplexen Gedanken und Gefühlen

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts habe es die Hoffnung gegeben, dass Literatur auf Wahrheit verweisen könne, wobei Wahrheit als das galt, „was an Wahrscheinlichkeit zu haben ist“. Heutzutage werde die Gegenwart nicht mehr als Moment des Übergangs, sondern als sich verbreitende Simultanitäten begriffen. Es gebe die Sehnsucht nach einem referenzgebundenen Wahrheitsbegriff – und die Literatur biete die Möglichkeit, nahe an einer der vielen Wahrscheinlichkeiten dran zu sein.

Nach einer regen Diskussion, in der Gumbrechts Vorschläge von Professoren und Studierenden kontrovers besprochen wurden, präzisierte der Wissenschaftler seinen Wahrscheinlichkeitsbegriff im Hinblick auf die Literatur des 21. Jahrhunderts: In Bezug auf Jonathan Littells preisgekrönten Roman „Die Wohlgesinnten“, der die unmenschliche Dimension des Zweiten Weltkriegs aus der Perspektive eines mörderischen SS-Offiziers beschreibt, stellte Gumbrecht eine epistemologische Verschiebung in zeitgenössischer Prosa fest. Wahrheit und Wahrscheinlichkeit zeigten sich dort – wie auch in Toni Morrisons Jazz-Roman – weder als feste Größe, noch als willkürliches, alles in Frage stellendes Relativ, sondern als ein Gewebe aus komplexen Gedanken und Gefühlen. Das sei, so Gumbrecht, das Faszinierende an moderner Literatur: Sie mache Wirklichkeit fassbar, indem sie sich auf Stimmungsbilder einlasse – mögen sie noch so fremd und abstoßend erscheinen.