Neues Deutschland vom 22.06.2007: Kubikwurzel, Kaffee und ein Konsens
Europäische Studenten simulierten den Brüsseler Gipfel und einigten sich auf neuen Vertrag
Von Mark Wolter
Europas Zukunft ist gerettet, ein neuer Vertrag auf den Weg gebracht – zumindest wenn es nach dem Europäischen Rat ginge, der Montag und Dienstag in Berlin statt in Brüssel tagte und bei dem nicht Regierungsdelegierte, sondern Studenten europäischer Universitäten die 27 Mitgliedsstaaten vertraten.
News vom 22.06.2007
Zwei Tage diskutierten die Studenten, die sich fünf Wochen lang auf die Vertretung »ihres« Landes vorbereitet hatten, wild und heftig im Akademischen Senatssaal der Freien Universität (FU), warfen mit Anträgen umher, tranken literweise Kaffee und rangen zäh um Formulierungen.
Hauptstreitpunkt war das von Polen geforderte Quadratwurzelsystem für die Stimmrechte, das die Pariser Politikstudentin Barbara Murawska mit mathematischen Studien als demokratisch fairstes System für die »Kleinen« verteidigte. »Eine Kubikwurzel wäre dann wohl noch demokratischer«, lehnte der diskussionsfreudige Delegierte des kleinsten EU-Staates Malta, der FU-Jurastudent Sebastian Beining, den Vorschlag ab.
Immer wieder wurden bilaterale Verhandlungen anberaumt, wurden Änderungen am Entwurf vorgenommen: keine Verwendung des Ausdrucks Verfassung, Verankerungder Grundrechtecharta, verlängerte Ratspräsidentschaft, und – ein Erfolg Großbritanniens – kein EU-Außenminister, sondern ein außenpolitischer Vertreter ohne Entscheidungsgewalt. Schließlich stimmte auch Polen dem Prinzip der »doppelten Mehrheit« zu.
Erst in letzter Sekunde kam es zur Abstimmung über den Kompromiss, der zur großen Erleichterung mit einem Ja der zuletzt votierenden Polen einstimmig angenommen wurde und eine Regierungskonferenz mit der Erarbeitung eines »Einheitlichen Grundlagenvertrags « beauftragte.
»Für den Kompromiss haben wir viele Zugeständnisse von anderen Ländern im wirtschaftlichen Bereich bekommen«, freute sich die polnische Delegierte Murawska, die es als »sehr schwierig« empfand, die Meinung Polens zu vertreten.
»Das war ein erfolgreicher Berliner Rat«, sagte Organisatorin und FU-Mitarbeiterin Peggy Wittke. Vielleicht ist Malta beim »echten« Gipfel in Brüssel nicht die treibende Kraft und wahrscheinlich entschuldigt sich die ungarische Delegation für eine Verspätung nicht mit Croissants, aber eines hatte der Berliner Gipfel nach Meinung seiner Teilnehmer den Politprofis voraus: einen Konsens. Mark Wolter
Aus "Neues Deutschland" vom 22.06.2007, Seite 7