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Laudatio von Prof Dr. Wolf-Dieter Narr

Laudatio für Johanna Kootz zur Verleihung des Margherita-von-Brentano-Preises 2004

von Prof. Dr. Wolf-Dieter Narr

„Geist ist der Name für das Lebendige, das eine Richtung hat“ – Oder wider den Mittelweg, neudeutsch: Mainstream aller Geschlechtsvarianten.

Liebe Johanna Kootz,
verehrte, preisverleihend, preislobend Anwesende!

Den besten, zuweilen auch fragwürdigen Pathetiker deutscher Nation, in diesem Jahr jährt sich sein 200. Todestag, will und muss ich, indem ich lobsingend anhebe, einen kurzen Hauch lang übertreffen. Wenigstens die bekannte captatio benevolentiae seiner Antrittsvorlesung.

Überaus erfreuend und mich fast beschämend ehrenvoll ist es, zwei Frauen mit Wortgirlanden zu umwinden, die ich gut gekannt habe und gut kenne, die ich als ganze Personen, wenn so zu sagen erlaubt ist, schätzte und schätze. Rundum. Als Intellektuelle. Als Aussprecherinnen. Sie sagten und sagen, was ist. Das ist nicht nur das wissenschaftlich Schwierigste und gerade an den rationalisierungwortfixen Universitäten rare. Als Frauen, die andere, insbesondere Diskriminierte zur Selbsttätigkeit, Humboldts zentralem Begriff, antiautoritär anleiten. Als Frauen, die konkret utopischer Ziele bewusst sind. Einer Universität etwa, die ihren Namen verdient und Gleiche und Freie umfasst. Gemäß Rosa Luxemburgs zurecht berühmter Freiheitsbestimmung in ihrer frühen, 1918 geschriebenen, seinerzeit nicht veröffentlichten Kritik an Lenin und Trotzki, nicht an der Oktoberrevolution als solcher. Dass Freiheit immer die Freiheit der anders Denkenden, und nun ergänze ich in erlaubter Weise, der anders Lebenden, ein anderes Geschlecht Repräsentierenden bedeute. Und hierfür, versteht sich, der nötigen institutionellen und sozialen Voraussetzungen bedürfe. Damit gleiche Freiheit, sprich Autonomie, materiell möglich werde. Sonst bliebe Freiheit, das was als Attrappe aufgestellt wird: ein freiheitsverneinendes Privileg; eine abstrakte Norm, die doppelte Moral schafft.

Diese beiden Frauen sind Margherita von Brentano, deren Namen der Preis trägt und ich verstehe dieses nomen strikt als omen und Johanna Kootz, hier unter uns. Sie erhält diesen Margherita-von-Brentano-Preis heute mit bestem Grund verliehen.

Beide Frauen waren und sind denkbar verschieden. Eine gute halbe Generation auseinander geboren. Aus erheblich unterschiedlichen Häusern. Das deutet nicht nur das blaublütige „von“ der Margherita an. Sie sind sehr verschieden „sozialisiert“. Margherita war noch mehr ausgesetzt der „Zeiten ungeheurem Bruch“, die der Nationalsozialismus bedeutet. Menschengeschichtslang. Johanna zählt zur Generation der „Nachgeborenen“, die Bert Brecht meinte. Darin überschneidet sie sich freilich stark mit der älteren Margherita. Beide Frauen hatten unterschiedliche Universitätskarrieren. Margherita hier, zuerst, nicht ohne Irritation, Heidegger-Schülerin, dann des trefflichen FU-Philosophen Weischedel Assistentin, eine Philosophin eigener Standschaft von Geblüt: klar, deutlich, streitbar, selbstredend politisch und unendlich diskriminierungssensibel. Johanna dort, aus strebsamem Elternhaus, zuerst Bibliothekarin, dann studentenbewegt gerüttelt, geschüttelt, getrieben, am eigenen Schopf gepackt, früh in der zweiten Frauenbewegung aktiv.

Diese Bewegung in Westdeutschland und Westberlin bewegte sich bekanntlich zuerst tomatig, auf jeden Fall mit weichen Wurfgeschossen spektakulär, eingesetzt gegen angeblich und in beschämend beschränktem Sinne auch tatsächlich linke Männer. Als hätte es weder die lange Tradition, mittendrin, angefangen, von Mary Wollstonecraft und Olympe de Gouges gegeben, noch Simone de Beauvoirs in deutscher Übersetzung Mitte der sechziger Jahre gerade ein gutes Jahrzehnt zurückliegendes „Deuxième Sex“. In einem Beitrag zur Festschrift einer Kollegin meines Jahrgangs 1937, Renate Rott nämlich, schreibt Johanna Kootz, nicht ganz, aber auch ihre frühen Jahre berührend:

„Die Mühen dieses Umwegs stellen eine Verbindung her zur ersten Studentinnengeneration, die auch auf unkonventionellen Bildungswegen den Zugang zum Studium erobert und mit ihren vielfältigen beruflichen Erfahrungen die Universitäten bereichert hatte. Von einer Würdigung der besonderen Anstrengungen und Kompetenzen, die jene aus der ‚Bildungsferne‛ kommenden Studierenden den Hochschulen einbrachten, wissen wir nichts – für viele der studierenden Frauen führte das später zu einem schwer auszugleichenden Nachteil hinsichtlich der Zeitvorgaben, die den durchschnittlichen Karriereweg in der Wissenschaft bestimmen. In dieser Phase kann sicher aber von den meisten gesagt werden, dass sie erst einmal die Freiheiten des akademischen Lebens genossen – insbesondere nach Jahren der Berufstätigkeit – und ein Privileg darin sahen, überhaupt ein Hochschulstudium beginnen zu können.“

Johanna Kootz’ „Weg ins Freie“ (Arthur Schnitzler) und ein Beruf inmitten der Frauenbewegung außerhalb und innerhalb der Universität profilierte dann ihre rare Kombination. Intellektuelle Politik, mit einer Margherita von Brentano durchaus vergleichbaren Entschiedenheit, ja Radikalität verband und verbindet sie mit organisatorischen Fertigkeiten und Hilfen für andere Frauen in schier unüberblickbarer Fülle. Wer zählt die Aktivitäten, listet die Hebel, die Mühen der Halb- und Viertelerfolge, der Niederlagen nicht zuletzt und in systematisch wachsendem Maße, nennt die Namen derjenigen Frauen schließlich, die Johanna Kootz gefördert, angeregt, weitergebracht, im Lauf der Jahrzehnte zusammenkamen. Das zeichnet den praktischen Politikbegriff Johanna Kootz’ an erster und letzter Stelle aus, dass sie, institutionell-organisatorisch phantasievolle Sozialwissenschaftlerin, die sie ist – sie besitzt das, was C. W. Mills „sociological imagination“ genannt hat oder die einzigartige Simone Weil in ihren Cahiers „Gymnastik der Einbildungskraft“ –, Kritikerin darum aller etablierten und autonomes Handeln einschnürender Kontexte, auf die einzelne Studentin schaut, die nicht zurecht kommt; auf die junge Kollegin, die sich im verwinkelten, institutionenmännlich und konkurrenzhaft trimmenden unversitären Labyrinth nicht zurecht findet. Diesen halb verlorenen Frauen, den Studentinnen institutionell und vom Unbegriff „der“ realen Wissenschaft blockiert zumal, gibt sie deshalb gute, meist anhaltende Ratschläge im besten Sinne. Als gleichschultrig Lehrende, eingängig, bestens vorbereitet und auf Hilfe zum Selbstdenken bedacht, springt sie, selbstredend, Studenten und Kollegen in Not in gleicher Weise bei. Nur: Diese werden, angefangen vom institutionell ausgefällten Begriff von Wissenschaft, über Prüfungsanforderungen und -formen in der Regel ungleich mehr unterstützt; wenngleich auch sie entfremdet werden, um einen längst verlorenen Begriff neu zu benutzen.

All diesen Unterschieden zum Trotz zogen oder ziehen die beiden ungleichen Frauen in zentralen Zielen und Mitteln am gleichen Strang: Margherita von Brentano und Johanna Kootz. Darum darf ich, der sie wohl kannte, sogar ein wenig für Margherita sprechen, ohne einen fragwürdigen Stellvertreter zu mimen, wenn ich Johanna Kootz rühme, eine der Namensgeberin dieses Preises, gerade auch in ihren Andersartigkeiten würdige Trägerin desselben zu sein. Im Kern verband und verbindet beide, die immer erneute, gegenwarts- und zukunftsgerichtete Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland. Vor nunmehr 60 Jahren ging diese im Unconditional Surrender mit nie ermessbaren und immer erneut zu ermessenden humanen Kosten werwölfisch mörderisch bis zum letzten Tag zugrunde. Nicht zufällig äußerte sich Margherita 1961, just zu einem Zeitpunkt da auf öffentlichen, westdeutsch auf universitären Geländen eine Tafel „Dreigeteilt niemals!“ aufgestellt worden ist, gegen die inhuman-geschichtslose, parteien- und vertriebenengruppen-, vor allem funktionärsmächtige Infragestellung der Oder-Neiße-Grenze.

Horribile dictu rumort es, wie Sie wissen, auch heute noch. Nicht ohne eigenen inneren, politisch aktuellen Grund hat sich Johanna Kootz vor allem um das Frauen-KZ Ravensbrück besonders gekümmert und tut es noch. Das Gedächtnis daran, hell zu halten, ist eines. Die Opfer vor dem Vergessen zu retten. Jede einzelne Frau. Entscheidend geht es jedoch darum, dass hier und heute und morgen nicht alte und neue Bedingungen gewahrt und geschaffen werden. Solche, die alte Vorurteile wieder neu rollen lassen und heute schon hier und dort die ‚einsame Masse’ und die ihr dienliche Politik überrollen. Und wie wir wissen, bilden die Universitäten alles andere als vorurteils- und gewaltausgenommene Bezirke. Mit diesem Kernelement ihres der ganzen Person geltenden Engagements in all seinen vielen Dimensionen hängt eng ihre dort verschieden ausgeübte und doch im Ziel und seinen hauptsächlichen Mitteln identische Vorstellung von der Einrichtung und Aufgabe der Universität zusammen. Zu einer ganz anderen Zeit indes: war sie so anders oder haben sich nur die Mittel verändert ? –, da das deutsche Wort „Berufsverbot“ zum international gehandelten Lehnwort wurde, formulierte Margherita, indem sie den, auf den ersten Blick schwer enträtselbaren Sinn dieses Berufsverbots bedachte:

„Die Funktion, die bisher die Mehrheit der Intelligenz von der Universität bis zum Kindergarten erfüllt hat, ist gefährdet (durch die Studentenbewegung und ihren bald austönenden Nachhall, WDN). Diese Funktion war: Einübung von Anpassung, Fungibilität und Rationalität in genau dem Maße, in dem sie systemnotwendig sind, Verhinderung von Vernunftgebrauch und Handlungsfähigkeit, die darüber hinausgehen können; sie war außerdem Selektion, Verteilung der Auszubildenden in Gruppen der Handlanger, der ‚Kopflanger‛ und der Führungseliten und Herstellung des richtigen Bewusstseins für die jeweilige Gruppe. Auf der höchsten Etage, der Ausbilder-Ausbildung, war sie zugleich Produktion der Legitimationstheorien für all dies. Diese Funktion der Intelligenz stand nicht im Widerspruch zur Zweckfreiheitsideologie, im Gegenteil, die bedurfte ihrer, um sich möglichst naturwüchsig vollziehen zu können.“

Man reibt sich die Augen. Träume ich nur schlecht? Das, was 1972 zutraf, als Margherita von Brentano  ihren Vortrag in Marburg vor großem, gespannten Publikum mit leiser Stimme hielt – die sprichwörtliche Nadel hätte man laut fallen hören – gilt heute, aufgrund systemisch global verschärfter Änderungen bis zu den symptomatischen Hartzereien der Stunde, massiver, vereinzelt die Studierenden hilfloser und „naturalisiert“ Ungleichheit und Unmündigkeit perfekter.

Nur auf das freilich zentrale Verhältnis der Geschlechter bezogen, formulierte Johanna Kootz, indem sie 1993 die leider rasch verblichene Hoffnung der Reformchance qua „Vereinigung“ berührte: „Die Differenz zwischen den Geschlechtern soll als Gewinn begriffen werden, d. h. sie muss anerkannt werden als ein Zuwachs an Kompetenz, an Erfahrung, an Erkenntnisinteressen und Urteilsvermögen. Eine neue Konzeption für die Hochschulen muss so angelegt sein, dass dieses Ziel realisiert werden kann.“

O welch schreckende Distanz zu dem, was den Universitäten, und nicht nur den deutschen unter ihnen, gegenwärtig weltweit in Form eines brave new globalism blüht. Der britische Kollege Stefan Collini hat es vor Jahresfrist in der London Review of Books „educational Darwinism“ genannt. Er schloss seinen analytischen, auf Großbritannien bezogenen Überblick anlässlich eines neuen White Papers zu den Universitäten: „Amid the uncertainties currently facing universities, the only certain thing is that these are all problems, which will be exacerbated rather than solved by placing them in the lap of the market.”

Nun bin ich mitten drin im Wust dessen, was ich anderwärts die Resterledigung der Universitäten genannt habe, der Universitäten: innovatorisch getrimmt in divers schnittige Wagenklassen, wie sie gegenwärtig im ewigen humanen Doppelpass, fremd- und selbstverschuldet, um- und neu montiert werden. Wo sind mein freudiges Pathos, wo meine grünen und blumenduftenden Lobgirlanden geblieben? Mit ihrem taufrischen Gerank wollte ich, Marghertia von Brentanos lebendig eingedenk, Johanna Kootz immergrün und nachduftend, fast wie einen Kleiderersatz umwinden! Wärmend, nachhaltig. Indes gerade, weil mich, und hoffentlich nicht prätentiös, eine tiefe Sympathie mit beiden Frauen verbindet, derjenigen, die dem Preis ihren Namen gibt – ob sie darob noch befragt worden ist, weiß ich nicht – und derjenigen, die den Preis erhält, darf und durfte ich nicht, wohlgefällig strahlend, die Verhältnisse glänzend wichsen. Margherita und Johanna, vereint in praktisch gerichteter kritischer Theorie und theoretisch fundierter, änderungserpichter Praxis, haben ihr Leben darin und damit erfüllt und tun es noch, dass sie um aller, die lernend nachkommen und ihre verschiedenen Wege ins Freie willen, die Verhältnisse, die nicht so sind, wie sie sein könnten, wie sie human sein müssten, gründlich mit anderen umzugestalten ausgingen und ausgehen. Darum, im täglichen Vor- und Kleingriff in Richtung konkrete, menschenmögliche und menschennötige Utopie,  ihre große, ihre anhaltende Genauigkeit und Tapferkeit im Detail des Gedankens und im wichtigsten Detail aller Details: der Kümmernis um jede einzelne Person in ihrem sozialen Zusammenhang. Diese Person in ihren humanen Möglichkeiten (und damit, wohlgemerkt, ihrer möglichen Humanität) wird ohne solche fraulichen Änderungen angesichts der global gewordenen, furios innovativen „Begierde zum Haben und auch zum Herrschen“ (Kant) zur massenhaften quantité negliable.

Ich schließe mit einigen Sätzen Klaus Heinrichs, von dem ich mir bereits einen Teil des Titels geborgt habe. Über dessen, von ihr besuchte Vorlesungen berichtete mir Johanna Kootz noch jüngst, erinnerungsbesonnt. Und wie sehr lehrte Heinrich uns studentisch-kollegial, dass die Kunst des Ja-Sagens, die des Nein-Sagens voraussetze, wie vice versa:

„Dieser ein Bewusstsein ihrer selbst zu geben: darin sahen wir die Aufgabe einer Universität. Staatsbürger sein, es potenziert sein in der Helle des Bewusstseins, nämlich denkender, erkennender Staatsbürger, der aus seinem Erkennen Konsequenzen zieht: das war die vornehmste Aufgabe des Bürgers einer Universität. Wie hatten die Lehre der NS-Zeit verstanden, die heute wieder vergessen ist: dass die politisierte Universität identisch ist mit der vermeintlich unpolitischen. Wir wollten das politische Bewusstsein des Universitätsbürgers. Es allein garantierte uns die Freiheit der Universität, die stellvertretend stand für eine freie Gesellschaft. Politiker und Professoren, Gewerkschaftler und Schriftsteller teilten unsere Ansicht.“

Und Johanna Kootz tat und tut es noch. Der freilich immer nur brosamenhafte kairos der unmittelbaren Nachnationalsozialismuszeit ist längst vorüber, wie der bestenfalls andeklinierte der Studentenbewegung selig. Johanna Kootz lebt Max Webers Einsicht und tut alles ihr gemäss andere leben zu lassen (weberisch formuliert in „Wissenschaft als Beruf“ 1917, wohlbemerkt): „Denn nichts ist für den Menschen als Menschen etwas wert, wenn er es nicht mit Leidenschaft tun kann.“ Ausgerichtet am Ziel, das ich im Titel, Heinrich folgend, genannt habe. Um es mit Margherita von Brentano aus demselben Jahr der Heinrich-Formulierung, 1967 nämlich, zu sagen: „Rationalität der Mittel ohne Rationalität der Zwecke ist lebensgefährlich.“

Ich gratuliere Dir, Johanna Kootz, zum wohlverdienten Preis. Margherita von Brentano hätte Dir, erfreut und sinnvertraut, die Hand geschüttelt. Ich tue es an ihrer statt.