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„Ein Aufruf zu Sittlichkeit und kritischem Denken“

Die Schriften Hannah Arendts wurden in Deutschland lange nicht angemessen rezipiert. An der Freien Universität wird ihr Werk in einer neuen Kritischen Gesamtausgabe erstmals vollständig und in wissenschaftlich gesicherter Form zugänglich.

08.12.2025

Angesichts des weltweit wachsenden Einflusses rechtspopulistischer und autoritärer Systeme erscheint Hannah Arendts Werk heute aktueller denn je.

Angesichts des weltweit wachsenden Einflusses rechtspopulistischer und autoritärer Systeme erscheint Hannah Arendts Werk heute aktueller denn je.
Bildquelle: Münchner Stadtmuseum Sammlung online

Hannah Arendt gehört zu den bedeutendsten Denkerinnen des 20. Jahrhunderts. 1906 in Linden bei Hannover geboren, flieht die jüdische Philosophin 1938 aus dem nationalsozialistischen Deutschland in die Vereinigten Staaten. Bis zu ihrem Tod im Jahr 1975 lebt sie in New York. Von dort aus setzt sie sich intensiv und kritisch vor allem mit der europäischen Tradition politischen Denkens auseinander – insbesondere vor dem Hintergrund des Holocausts und ihrer von Totalitarismus und Gewalt geprägten Zeit. Doch während die Schriften Arendts in der englischsprachigen Welt schnell zu Klassikern avancieren, wird ihr Werk in Deutschland lange Zeit vernachlässigt.

„Die Deutschen fremdelten lange mit Hannah Arendt“, sagt Prof. Dr. Barbara Hahn, die Professuren an der Princeton University und an der Vanderbilt University innehattesowie seit 2016 Honorarprofessorin für Deutsche Literatur an der Freien Universität ist. „Anders als viele ihrer Zeit- und Schicksalsgenossen, etwa Theodor W. Adorno, kehrte sie nach dem Krieg nicht wieder nach Deutschland zurück. Sie schrieb in mehreren Sprachen, und das auf eine Art und Weise, wie man es in der deutschen Philosophie überhaupt nicht gewohnt war. Damit eckte sie im Nachkriegsdeutschland – besonders als Frau – an.“ Lange Zeit sei das Werk Arendts so auch editorisch vernachlässigt worden. „Bisher existierte selbst für ihre Hauptwerke oftmals keine wissenschaftlich gesicherte Textgrundlage“, betont Hahn. „Während ihre Zeitgenossen schon seit den 70er oder 80er Jahren mit großangelegten Ausgaben bedacht wurden, wurde ihr Werk in Deutschland nie angemessen herausgegeben und rezipiert.“

Prof. Dr. Anne Eusterschulte (links) und Prof. Dr. Barbara Hahn arbeiten an der Freien Universität gemeinsam an der ­Kritischen Gesamtausgabe der Schriften von Hannah Arendt.

Prof. Dr. Anne Eusterschulte (links) und Prof. Dr. Barbara Hahn arbeiten an der Freien Universität gemeinsam an der ­Kritischen Gesamtausgabe der Schriften von Hannah Arendt.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Diese Leerstelle wird an der Freien Universität also nun gefüllt. In dem in Dahlem angesiedelten Editionsprojekt entsteht seit 2018 die neue Kritische Gesamtausgabe des Werkes von Hannah Arendt. 2020 wurde das Editionsvorhaben von der Deutschen Forschungsgemeinschaft in die DFG-Langzeitförderung aufgenommen. Die Edition präsentiert sämtliche von Arendt zu Lebzeiten veröffentlichten Werke sowie tausende Seiten unveröffentlichter Dokumente aus dem Nachlass. Erstmalig wird das Gesamtwerk der Philosophin damit in historisch-kritischer Form zugänglich.

„Texte Hannah Arendts wurden von den Herausgebern oftmals verändert, gelegentlich auch posthum“, sagt Prof. Dr. Anne Eusterschulte, Hochschullehrerin für Geschichte der Philosophie an der Freien Universität. Gemeinsam mit Barbara Hahn ist sie eine der Hauptherausgeberinnen der neuen Gesamtedition. „Wir leisten nun erstmals eine Ausgabe, die diese Eingriffe ersichtlich macht. Zudem sind unsere Bände mit einem umfangreichen Kommentar ausgestattet. Dort rekonstruieren wir nahezu sämtliche historischen Quellen, auf die sich Arendt explizit oder implizit bezieht.“ Dafür sichten die Herausgeberinnen und Herausgeber den kompletten Nachlass der Philosophin neu, der unter anderem im „Deutschen Literaturarchiv Marbach“, in der „Library of Congress“ in Washington, D. C., sowie im „Bard College“ im Bundesstaat New York lagert. Rund 21.000 Seiten aus verschiedensten Büchern, Manuskripten und Typo­skripten sollen bearbeitet werden. „Die neue Gesamtausgabe ermöglicht ein vielschichtiges Lesen“, sagt Hahn. „Sie ­erlaubt, die umfangreichen Bezüge nachzuverfolgen, die Arendt in ihren Texten miteinander verwoben hat. So kann ihr Werk auf eine gänzlich neue Weise erschlossen ­werden.“

Insgesamt 18 Bände der neuen Ausgabe sind geplant, die bis 2032 sukzessive erscheinen sollen. Die ersten vier Bände sind bereits erschienen – wie alle geplanten Bände in hybrider Form, sowohl als gebundenes Buch als auch in einer frei zugänglichen Online-Version. „Wir bieten damit zwei Formen des Lesens an“, unterstreicht Eusterschulte. „Die Buchform ist als persönliche Leseausgabe gedacht. Man liest sie von vorne bis hinten, kann hineinschreiben, Zettel hineinkleben. Die Digitalausgabe hingegen bietet durch verschiedene Analysetools die Möglichkeit des Querlesens.“ Beide Ausgaben ergänzen einander dabei. „Wir haben deutlich gemerkt, dass die Verkaufszahlen der gedruckten Ausgabe steigen, sobald die Online-Ausgabe verfügbar ist“, sagt Hahn. „Das Lesen im Netz nimmt uns also das Buch nicht weg. Im Gegenteil, es bringt die Menschen dazu, in den Buchladen zu gehen.“

Zum Auftakt der Konferenz „Hannah Arendts ‚Eichmann in Jerusalem‘ – 
Edition und Interpretation“ hielt der renommierte israelische Historiker und Journalist Tom Segev die Keynote.

Zum Auftakt der Konferenz „Hannah Arendts ‚Eichmann in Jerusalem‘ – 
Edition und Interpretation“ hielt der renommierte israelische Historiker und Journalist Tom Segev die Keynote.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Arendt hat so gut wie alle ihrer Schriften in mehr als einer Sprache verfasst. Ein Spezifikum der der Kritischen Gesamtausgabe ist, dass sämtliche Texte in ihren jeweiligen Originalsprachen veröffentlicht werden. Die Bände bringen so deutsche, englische, französische und jiddische Texte zusammen. „Eine der Besonderheiten von Hannah Arendt ist, dass sie ihre Texte nicht einfach in eine andere Sprache übersetzt hat“, sagt Hahn. „Es handelt sich jeweils um unterschiedliche, eigenständige Texte.“

So wurde ihr wohl bekanntestes Werk, das in Deutschland unter dem Titel „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ im Jahr 1955 erschien, bereits vier Jahre zuvor auf Englisch unter dem Titel „The ­Origins of Totalitarianism“ publiziert. Beide Werke unterscheiden sich jedoch signifikant voneinander. „Hannah Arendt richtete sich jeweils in verschiedenen Sprachen an eine bestimmte Leserschaft“, sagt Eusterschulte. „Sie schrieb das Buch einmal für ein amerikanisches Publikum, das den Holocaust und den Krieg aus der Ferne mitbekam – und einmal für die Deutschen, die mit dem totalitären System des Nationalsozialismus unmittelbar verstrickt waren.“ Anfang des nächsten Jahres werden in der Kritischen Gesamtausgabe nun beide Werke erstmals in einem gemeinsamen Band erscheinen. „Aufgrund der unterschiedlichen Textgrundlage unterscheidet sich die Rezeption des Werkes in den USA und in Deutschland teils erheblich voneinander“, betont Eusterschulte. „Indem wir beide Sprachen nun zusammenbringen, möchten wir auch einen Beitrag dazu leisten, diese Rezeptionsstränge zusammenzuführen.“

Im nächsten Jahr soll dann auch ein weiterer Klassiker Arendts neu ediert erscheinen. Im dem 1963 erstmals auf Englisch erschienenen Buch „Eichmann in ­Jerusalem“ verarbeitete Arendt ihre Eindrücke als Beobachterin im Prozess gegen den ehemaligen deutschen SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann. Dort entwickelte sie ihre berühmte These von der „Banalität des Bösen“. Eichmann war als Referatsleiter im damaligen Reichssicherheitshauptamt maßgeblich mitverantwortlich für die Organisation der Verfolgung, Vertreibung und Deportation der europäischen Juden während der Zeit des Nationalsozialismus und damit auch für den Holocaust. 1961 wurde er vom Staat Israel zum Tode verurteilt. „Hannah Arendt arbeitete Zeit ihres Lebens an der Frage, wie es möglich wurde, dass Menschen auf die Idee kamen, ganze Völker ermorden zu dürfen“, sagt Hahn. „Antworten fand sie nicht in einer metaphysischen Konzeption des Bösen. Sie beschrieb vielmehr, wie gewöhnliche Menschen aus Gedankenlosigkeit und Gehorsam zu Tätern werden.“

Im Vorfeld der finalen Drucklegung von „Eichmann in Jerusalem“ luden die Herausgeberinnen und Herausgeber der Kritischen Gesamtausgabe Anfang November 2025 ein zu einer vom Präsidium der Freien Universität und der Ernst-Reuter-Gesellschaft unterstützten Tagung über diesen „Bericht“ im „Dokumentationszentrum Topographie des Terrors“. „Hannah Arendt hat ihre Texte vor der Veröffentlichung oft im direkten Austausch mit den Menschen getestet“, sagt Eusterschulte. „In diesem Sinne wollten wir nun auch einmal die zentralen Thesen des Buches mit Expertinnen und Experten aus aller Welt besprechen.“

In einer Zeit, in der rechtspopulistische und -autoritäre Bewegungen und Systeme weltweit an Macht gewinnen, ist die Auseinandersetzung Arendts mit totalitären Systemen Barbara Hahn zufolge von erschreckender Aktualität. „Als ich ihre Analysen in den 1970er-Jahren erstmals gelesen habe, beschrieben sie für mich die Vergangenheit“, betont sie. „Wenn ich Arendt heute lese, habe ich leider den Eindruck, dass sie auch unsere Gegenwart beschreibt.“ Zwar unterscheide sich die gegenwärtige politische Lage deutlich von der Zeit Arendts. Dennoch liefere ihr Oeuvre noch heute entscheidende Impulse, um antisemitische, fremdenfeindliche und autoritäre Rhetorik und Machtausübung zu verstehen. „Hannah Arendt untersucht die Bedingungen, in denen Menschen zu kleinen Rädchen in gewalttätigen Systemen werden“, sagt Anne Eusterschulte. „Und genauso untersucht sie im Gegenteil, wie man durch das eigene Denken, Sittlichkeit und moralische Standfestigkeit dagegenhalten kann. In diesem Sinne ist ihr Werk auch ein Kantscher Aufruf, selbst zu denken – und sich nicht mit Gedankenlosigkeit schuldig zu machen.“

Weitere Informationen

Zur Hannah-Arendt-Forschung und -Rezeption wird auch in einer anderen Form an der Freien Universität seit Jahren Bedeutendes geleistet: durch die renommierte internationale Online-Publikation „HannahArendt.net. Zeitschrift für politisches Denken. Journal for Political Thinking“. Mitbegründer und hauptverantwortlicher Redakteur ist Priv.-Doz. Dr. Wolfgang Heuer am „Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft“, mitverantwortliche Redakteurin Prof. Dr. Frauke A. ­Kurbacher, Hochschullehrerin für Ethik an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen und darüber hinaus am „Institut für Philosophie“ der Freien Universität tätig. Der 2011 erschienene Band 6 der Zeitschrift war „Hannah Arendt and the Eichmann Trial 1961“ gewidmet, andere Bände befassten sich mit den Themen „­Power and Freedom“, „Human Rights and Resonsibility“, „Recht und Gerechtigkeit – Law and Justice“, „Wahrheit und Politik / Truth and Justice“ oder „Kosmopolitismus“. Der 2001 erschienene Band 5 des Vorgängers der Zeitschrift, des „Hannah Arendt Newsletters“, trug den ­Titel „50 Years of ,The Origins of Totalitarianism‘“. Auf den Websites der Zeitschrift findet sich auch eine Kurzbiographie Hannah Arendts.