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Die Mathematik der Tropfen, Gase und Strömungen

Vor 35 Jahren erhielt der Mathematiker Gerald Warnecke den Ernst-Reuter-Preis für seine herausragende mathematische Dissertation.

16.07.2021

Gerald Warnecke promovierte an der Freien Universität. Heute lehrt er als Mathematikprofessor an der Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg.

Gerald Warnecke promovierte an der Freien Universität. Heute lehrt er als Mathematikprofessor an der Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg.
Bildquelle: Jana Dünnhaupt

Gerald Warneckes Familie hat einen Hang zur Naturwissenschaft. Sein Vater ist ehemaliger Professor für Meteorologie an der Freien Universität, ein Onkel Mathematiker. Warnecke selbst ist seit vielen Jahren Professor für Numerische Mathematik an der Universität Magdeburg. Promoviert wurde er aber an der Freien Universität – und erhielt dort 1986 den Ernst-Reuter-Preis für seine Dissertation mit dem halsbrecherischen Titel „Über das homogene Dirichlet-Problem bei nichtlinearen partiellen Differentialgleichungen vom Typ der Boussinesq-Gleichung“.

Die „Berliner Morgenpost“, die über die Preisverleihung berichtete, fasste das Werk damals so zusammen: „Preisträger Dr. Gerald Warnecke-Lähnemann hat mathematische Gleichungen für die Schwingungsvorgänge in Materie aufgestellt.“ Diese Formulierung ist zwar nicht korrekt, denn tatsächlich fand Warnecke Lösungen für eine bereits bekannte Gleichung. Sie weist aber schon auf sein Interesse an anderen Naturwissenschaften hin. „Mich haben immer mathematische Anwendungen interessiert“, sagt er.

Schon als Schüler gibt Warnecke Nachhilfeunterricht

Geboren 1956 in Berlin-Neukölln, zog Gerald Warnecke bald nach Berlin-Zehlendorf. Eingeschult wurde er aber in der Nähe von Washington, D.C. Sein Vater, der Meteorologe, half damals dabei mit, Auswertungen der Daten von US-Wettersatelliten zu entwickeln. Zurück in Berlin, besuchte Warnecke die deutsch-amerikanische John F. Kennedy School. Er belegte im naturwissenschaftlichen Zweig der Gemeinschaftsschule neben Mathematik auch Biologie als Abiturfach. Daneben „habe ich die Klasse durchs Abitur gepaukt“, erzählt er. An einer Tafel, die ihm sein Vater geschenkt hatte, gab er seinen Mitschülerinnen und Mitschülern Nachhilfe bei sich zu Hause.

Warnecke prägt bis heute die Geschicke der Universität Magdeburg: als Mitglied des Akademischen Senats, als Dekan und Prodekan der mathematischen Fakultät und Mitglied mehrerer Magdeburger Graduiertenkollegs der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Warnecke prägt bis heute die Geschicke der Universität Magdeburg: als Mitglied des Akademischen Senats, als Dekan und Prodekan der mathematischen Fakultät und Mitglied mehrerer Magdeburger Graduiertenkollegs der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Bildquelle: Jana Dünnhaupt

Die Idee, vielleicht Medizin zu studieren, verwarf Warnecke während seines Freiwilligen Sozialen Jahres beim „Evangelischen Johannes­stift“ in Berlin-Spandau: Die Arbeitsbedingungen in der Pflege schreckten ihn ab.

An der Freien Universität schrieb er sich zum Wintersemester 1975/76 für Mathematik und Philosophie ein. Allerdings holte er sich nach dem Vordiplom die Erlaubnis, auf Physik umzusteigen. „Ich hatte gemerkt, dass mir im Mathestudium an einigen Stellen Physikkenntnisse fehlten.“

An seine „frühe Lehrtätigkeit“ an der Kindertafel knüpfte Warnecke nach dem Vordiplom als Tutor wieder an. Von dem Gehalt konnte er sich den Auszug bei seinen Eltern leisten. „Wir bekamen 1.000 Mark im Monat“, erzählt er. „Ich bin mit Gewinn aus dem Studium rausgegangen.“ So wohnte er in WGs, in einem sanierten Altbau in Schöneberg und einem unsanierten in Neukölln.

Nach dem Vordiplom begann Warnecke, sich zu spezialisieren. „Ich bin bei den partiellen Differentialgleichungen hängengeblieben“, erzählt er. Differentialgleichungen kommen zum Beispiel bei Prognosen zum Einsatz: Aus bestehenden Daten leiten sie künftige Entwicklungen ab. Ein aktuelles Beispiel sind etwa Prognosen zum Corona-Infektionsgeschehen.

Von Berlin nach Minnesota

Auf das Diplom folgte für Warnecke zunächst eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Mathematik der Freien Universität. Sein Plan war eine Promotion. Doch dann erhielt er die Zusage für ein Fulbright-Stipendium und studierte erst einmal an der University of Minnesota „Dinge, mit denen ich mich in Berlin noch nicht befasst hatte“: Strömungsmechanik zum Beispiel. Das traf sich mit Warneckes Interesse an Anwendungen.

Seine Freundin und heutige Frau ­Christiane Lähnemann studierte damals Politikwissenschaft auf Lehramt am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität und folgte ihm zunächst nach Minneapolis. Kennengelernt hatten sich die beiden bei der Initiative zur Gründung einer unabhängigen Studentenvertretung, da die Freie Universität damals keinen AStA hatte. Bald kam in den USA der erste gemeinsame Sohn zur Welt, und so entschied das Paar, nach Berlin zurückzukehren.

Seine Assistentenstelle hatte man ihm freigehalten. Warnecke fand nebenbei noch Zeit, Klarinette und Saxophon bei der Kapelle „IG Blech“ zu spielen, die heute noch existiert.

Es war dann Professor Karl Doppel, der Warnecke das Dissertationsthema vorschlug und dann auch sein Doktorvater wurde.

In mathematischen Arbeiten geht es nicht um Literaturquellen oder Experimente, sondern um Beweise. Es gibt in der theoretischen Mathematik viele vermutete oder behauptete Aussagen über Gleichungen. Mathematikerinnen und Mathematiker versuchen zu beweisen, dass sie stimmen oder nicht stimmen. Sie wollen verstehen, unter welchen Voraussetzungen sich deren Lösungen wie ändern.

Recherchieren. Probieren. Verwerfen 

Fast zwei Jahre lang suchte Warnecke nach Beweisen, recherchierte, probierte, verwarf Rechenwege und überlegte, unter welchen Bedingungen Lösungen existieren. Doppel habe ihn „erst mal machen lassen“, erzählt Warnecke. Den fertigen Entwurf ging er dann aber systematisch und Schritt für Schritt mit ihm durch. Das Ergebnis war die mit „summa cum laude“ bewertete Dissertation, für die ihm die Freie Universität den Ernst-Reuter-Preis verlieh.

Der Preis, den die Freunde und Förderer der Ernst-Reuter-Gesellschaft stiften, geht jedes Jahr an bis zu fünf herausragende Doktorarbeiten und ist mit jeweils 5.000 Euro dotiert – damals mit 10.000 Mark. Die Ausgezeichneten um Warnecke waren der zweite Jahrgang, dem diese Ehre zuteil wurde.

Dass er in der Forschung bleiben wollte, stand für Warnecke auch nach der Promotion fest. Er trat eine Postdoc-Stelle an der Universität Stuttgart an und erforschte mit einem interdisziplinären Team Berechnungsverfahren für kleine Überschallgebiete, die auf den Tragflächen von Passagierflugzeugen entstehen. Diese Verfahren werden im Flugzeugbau verwendet und helfen dabei, Treibstoff zu sparen. Wieder so ein Beispiel für den praktischen Nutzen von Mathematik.

Nach seiner Habilitation vertrat Warnecke ein Semester lang einen Kollegen an der TU München, und 1994 wechselte der Ernst-Reuter-Preisträger in jene Stadt, in der Reuter bis zu seiner Absetzung durch die Nationalsozialisten als Bürgermeister gewirkt hatte: An der gerade erst aus drei Hochschulen neu begründeten Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg besetzte er den Lehrstuhl für Numerik an der mathematischen Fakultät.

Am 5. Dezember 1986 berichtete die „Berliner Morgenpost“ über den Ernst-Reuter-Preis. Die Geehrten waren (v.l.n.r.): Gerald Warnecke (Mathematik), Rudolf Gambert (Chemie), Elke Hentschel (Germanistik), Klaus-Christian K hnke (Philosophie) und Hartmu

Am 5. Dezember 1986 berichtete die „Berliner Morgenpost“ über den Ernst-Reuter-Preis. Die Geehrten waren (v.l.n.r.): Gerald Warnecke (Mathematik), Rudolf Gambert (Chemie), Elke Hentschel (Germanistik), Klaus-Christian K hnke (Philosophie) und Hartmu
Bildquelle: Berliner Morgenpost

Nach der Wende folgt universitäre Aufbauarbeit

So kurz nach der Wende bedeutete die Professur in Magdeburg auch Aufbauarbeit. „In den Anfangsjahren mussten wir ziemlich strampeln“, erzählt er. Die DDR hatte die damalige TU Magdeburg „mager gefahren“ und die Zahl der Studierenden und Professoren knapp gehalten. Als Warnecke anfing, war er einer von nur sieben Professoren. Im Laufe der Jahre wurden es 15.

Die Geschicke der Universität hat Warnecke bis heute mitgeprägt: Unter anderem war er zweimal Mitglied des Akademischen Senats, er wirkte als Dekan und Prodekan der mathematischen Fakultät, gehörte mehreren Magdeburger Graduiertenkollegs der Deutschen Forschungsgemeinschaft an und ist heute wissenschaftlicher Direktor der Graduate Academy.

Gerade an den Graduiertenkollegs und Forschungsprojekten reizt ihn der interdisziplinäre Aspekt – oft ist es die Mathematik, die dabei die Brücke bildet. Etwa wenn Meteorologen und Astrophysikerinnen feststellen, dass kosmische Staubwolken sich ähnlich verhalten wie Gase auf der Erde, oder wenn Forschende numerische Gemeinsamkeiten zwischen einem Verbrennungsmotor und einer Supernova entdecken.

Natürlich arbeitete Warnecke nicht nur mit graduierten Forschenden zusammen, sondern führte auch Studierende in Analysis, Numerik und Zahlentheorie ein oder bot speziell zugeschnittene Mathematikvorlesungen etwa für angehende Ingenieurinnen und Ingenieure an. Dort lernen sie zum Beispiel, warum korrekte Algorithmen auf Computern manchmal ver­sagen.

Warnecke beschäftigt sich auch mit christlich-ethischen Fragen von Forschung und Wissenschaft 

Warnecke ist außerdem Ko-Vorsitzender des interdisziplinären Evangelischen Hochschulbeirats (EHB) Magdeburg, der sich mit christlich-ethischen Fragen von Forschung und Wissenschaft befasst. Der EHB Magdeburg bittet zweimal im Semester Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einer Magdeburger Hochschule um eine Laienpredigt. Warnecke verband 2005 in der hugenottischen Wallonerkirche den verheerenden Tsunami im Indischen Ozean mit der biblischen Jona-Geschichte.

Der Schwerpunkt seiner Forschung sind derzeit Gleichungen und Berechnungsverfahren zu Strömungen mit Phasenübergang zwischen Wasserdampf und -tropfen. In der Lehre bietet er unter anderem Seminare zu Virusmodellen in der Biologie an. Daneben setzt er sich für eine effektive Klimapolitik ein – „in meiner Verantwortung für meine drei Enkel“. Die Mathematik „kann und wird hoffentlich dazu vielfältige wesentliche Beiträge leisten“, sagt er.

Seine Söhne setzen die naturwissenschaftliche Tradition übrigens fort: Der eine ist Physiker, der andere Biologe.