Zeitzeuge an den Drums
Er promovierte bei einem Vater des Grundgesetzes und war bei den ersten „Bildfernsprechkonferenzen“ dabei: Die Karriere des Professors und Schlagzeugers Jan Tonnemacher liest sich wie eine Safari durch die Gesellschafts- und Technikgeschichte.
12.06.2019
Holen Sie tief Luft“, sagt Jan Tonnemacher durch die Gegensprechanlage. Die kleine Dachwohnung im Prenzlauer Berg hat natürlich keinen Aufzug. Während der Reporter oben im fünften Stock noch nach Luft ringt, das Bücherregal scannt und „Metropolis“-Poster und Plattenspieler registriert, federt Tonnemacher durch die Wohnung, stellt Wassergläser auf den Tisch, schenkt ein. „Berlin ist immer noch mein Drehund Angelpunkt“, sagt er.
Der Kommunikationswissenschaftler und emeritierte Professor für Journalistik ist an diesem Morgen vom Starnberger See aufgebrochen, wo er mit seinen Kindern wohnt. Morgen früh wird er an der Freien Universität, seiner Alma Mater, über „Medien und Journalismus im Nationalsozialismus“ referieren, nachmittags weitereilen nach Münster zu einer Fachtagung. „Immer unterwegs“, sagt er, und in gewisser Weise gilt das für seine gesamte Biografie.
Die Bombennächte des Zweiten Weltkriegs prägen seine frühesten Erinnerungen
Als Tonnemacher 1940 in Berlin zur Welt kam, gab es den Staat noch gar nicht, für den sein späterer Doktorvater Fritz Eberhard das Grundgesetz mitverfasste. Die Bombennächte des Zweiten Weltkriegs prägen seine frühesten Erinnerungen: halb angezogen schlafen, Sirenengeheul, Luftschutzkeller. Auch die Figur des Propagandaministers hatte sich dem Knirps eingebrannt. „Du Goebbels“, sagte er zu jedem, den er als Nazi erkannte.
Als die Rote Armee näher rückt, flieht die Familie aus Berlin; in Pinneberg wird Tonnemacher eingeschult, es folgen Umzüge nach Frankfurt am Main und Hannover. Abitur machte Tonnemacher wieder in Berlin. Dort schrieb er sich auch an der Freien Universität ein, Hauptfach: Volkswirtschaftslehre. Die Wahl war wohl auch seinem großen Bruder geschuldet, der ihn drängte, „was Solides“ zu studieren. Die Kommilitonen trugen Anzug und Krawatte, die „graue Theorie“ des Fachs ließ Tonnemacher oft an Studienabbruch denken. Dass er durchhielt, lag auch an seinem Nebenfach: „Publizistik fühlte sich exotisch an, schreiben konnte ich, und ich dachte, als Journalist könnte ich vielleicht etwas mehr für die Gesellschaft tun.“
„Yankee- Schnulzen“ beim Tanztee der US-Offiziere im Harnack-Haus
Das Studium finanzierte er mit Musik: Als Schlagzeuger in wechselnden Bands wie der „Brandenburg Gate Combo“ unterhielt er vor allem die amerikanischen und britischen Besatzungssoldaten: samstags Jazz im „Silver Wings“ im Flughafen Tempelhof, sonntags „Yankee- Schnulzen“ beim Tanztee der US-Offiziere im Harnack-Haus. Fürstliche 15 Mark gab es die Stunde. Manchmal war Tonnemacher auch als Chauffeur für einen Privatdetektiv tätig, der seinen Führerschein hatte abgeben müssen. „In den langen Wartezeiten konnte ich gut fürs Studium lernen“. Und er montierte Fernsehantennen auf Berliner Hausdächern. Das Studium in den Sechzigern fiel in bewegte Zeiten.
1964 hatte Tonnemacher bei einem Besuch in Berkeley die ersten Sit-ins erlebt; in Berlin demonstrierte er gegen den Schah, hörte auf SDS-Sitzungen „Rudis“ Reden, diskutier Berate mit Christian Semler, trank Rotwein mit Otto Schily oder belächelte die – damals noch unpolitischen – „Faxen“ des Publizistik-Kommilitonen Andreas Baader. Auch am Institut für Publizistik bewegte sich einiges. Als Tonnemacher anfing, stand das Institut noch ganz im Zeichen seines Gründers Emil Dovifat. Der brillante Redner und Professor für Zeitungswissenschaft betonte die „kämpferische Aufgabe der Presse“. Im Dritten Reich hatte er noch Beschränkungen der Pressefreiheit im Führerstaat gerechtfertigt.
„Leuten wie Eberhard ist es zu verdanken, dass die Bundesrepublik eine so gute Demokratie geworden ist“
Mit seinem Nachfolger Fritz Eberhard hielt nicht nur die empirische Sozialforschung Einzug am Institut. Biografisch war Eberhard der völlige Gegenentwurf zu Dovifat – ein „aufrechter Demokrat und Antifaschist“, urteilt Tonnemacher. Geboren als Hellmuth Freiherr von Rauschenplat, schrieb er unter dem Pseudonym Fritz Eberhard gegen die Nationalsozialisten an, flüchtete 1937 vor der Gestapo über die Schweiz nach Großbritannien, wo er bei der BBC Sendungen für deutsche Hörer machte. 1945 kehrte er aus dem Londoner Exil zurück, wurde Landtagsabgeordneter für die SPD. Als Mitglied des Parlamentarischen Rates gehörte er 1949 zu den vielen Vätern (und wenigen Müttern) des Grundgesetzes. „Leuten wie Eberhard ist es zu verdanken, dass die Bundesrepublik eine so gute Demokratie geworden ist“, sagt Tonnemacher.
In seinem Studium lernte er empirische Sozialforschung auch bei Elisabeth Noelle-Neumann. Die Pionierin der Demoskopie ließ Umfragen auf dem Campus durchführen und an ihrem „Steinzeitcomputer“ (Tonnemacher) auswerten – bestehend aus einem Zeitungs-Setzkasten und vielen farblich markierten Pappstreifen. Ihre Studentinnen und Studenten mussten die Streifen von Hand in den Setzkasten einsortieren. Nach dem Studium arbeitete Tonnemacher ein knappes Jahr lang für Noelle-Neumann, erst in Allensbach, dann an der Universität Mainz. Doch er fand ihren Stil autoritär, „und sie hatte andere Vorstellungen von der Arbeit als ich“, sagt er.
Für kurze Zeit schrieb er als Wirtschaftsredakteur für die „Globe and Mail“ in Toronto, reiste anschließend durch Lateinamerika und verfasste ein paar Reisereportagen für den „Südkurier“ und verschiedene Schweizer Zeitungen. Dann ging er zum Wirtschaftsforschungs- und Berate tungsinstitut Prognos nach Basel. Er führte Fachgespräche, wertete Statistiken aus und verfasste Analysen und Prognosen im Auftrag von „Spiegel“, „Gruner + Jahr“, „ARD“ oder „ZDF“. Bald fühlte er sich in der Auftragsforschung bei Prognos „verheizt“ – und meldete sich bei Fritz Eberhard mit der Idee für eine Promotion: Medienprognosen nutzbar machen für Medienpolitik. Denn wenn die Politik weiß, wie die Leute in Zukunft Medien nutzen, könnte sie darauf reagieren und die nötige Infrastruktur schaffen. Eberhard war interessiert und wurde sein Doktorvater. In keiner Würdigung, die Tonnemacher später über ihn verfasste, fehlt der Hinweis auf dessen Zuverlässigkeit: Jeder Essay, jedes Thesenpapier kam pünktlich zwei Wochen später mit seinen berühmten Bleistift-Randbemerkungen zurück. „Das war sehr motivierend“, sagt Tonnemacher. „Da war er später auch Vorbild für mich – vor allem seine Maxime, dass die Lehre ein Dienst für die Studentinnen und Studenten ist.“
Nach der Promotion lehrt Tonnemacher am Institut für Publizistik
Im Nebenfach studierte Tonnemacher Altamerikanistik. Nach der Promotion 1975 lehrte er weiter am Institut für Publizistik, habilitierte sich und wurde dann außerplanmäßiger Professor. Er arbeitete auch als Pressesprecher der Technischen Universität und später als Abteilungsleiter in der Intendanz des Senders Freies Berlin. Am Heinrich-Hertz-Institut für Nachrichtentechnik untersuchte er, wie sich neue Medien und Kommunikationsmittel auf die Gesellschaft auswirken könnten – zum Beispiel Kabel- TV, Bildschirmtext oder Videorekorder, damals „Kassettenfernsehen“ genannt. „Manche Diskussionen von damals wirken aus heutiger Sicht possierlich“, erzählt er, „etwa ob das Familienleben leidet, wenn es statt fünf plötzlich zehn Fernsehprogramme gibt.“ Auch dem Testlauf eines sehr frühen Skype-Vorläufers wohnte er bei: In einer „Bildfernsprechkonferenz“ waren Mitarbeiter aus fünf Oberpostdirektionen auf einem Bildschirm mit vier Quadranten zusammengeschaltet. Es war nicht das letzte Mal, dass Tonnemacher der medialen Zukunft früh begegnete. Schon im Jahr 2000 schrieb er das Buch „Online – Die Zeitung der Zukunft“.
Der Protestant von der roten Kaderschmiede FU
Da war er schon Professor für Journalistik an der Katholischen Universität Eichstätt. Gerüchten zufolge hatte der zuständige Bischof anfangs Bauchschmerzen, den „Protestanten von der roten Kaderschmiede FU“ zu berufen, der überdies auch noch von seiner Ehefrau getrennt lebte. Doch Tonnemacher und die Hochschule lernten einander schätzen. Er baute in Eichstätt einen PR-Zweig auf, holte „Spiegel“- und „Süddeutsche“- Redakteure als Dozenten, die den Studentinnen und Studenten praktischen Journalismus beibrachten – in einem hochschuleigenen Hörfunk- und Fernsehstudio, einer Zeitungs- und einer Online-Lehrredaktion. Zu seiner Emeritierung druckte die Lokalzeitung ein Foto, das Tonnemacher wieder am Schlagzeug zeigt.
Seinem Lieblingsmedium Zeitung gibt Tonnemacher kaum noch eine Zukunft. „Heute liest kaum noch jemand eine gedruckte Zeitung“, sagt er. „Das ist bedauerlich, aber unumkehrbar.“ Die etablierten Medien stehen heute auch als Institutionen unter Druck: Viele Menschen glauben ihnen nicht mehr, konsumieren Informationen nur noch in den Filterblasen und Echokammern ihrer selbstgewählten sozialen Medien. Tonnemacher treibt das um, auch in seinem Seminar. „Wir müssen wachsam sein“, sagt er. „Jemand wie Fritz Eberhard würde sich heute wieder stark engagieren.“