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"Du bist wie der Flughafen, du wirst nicht fertig!"

Sebastian Lehmann kam 2003 nach Berlin, um an der Freien Universität zu studieren. Noch während des Studiums tritt er mit eigenen Texten bei Poetry Slams auf. Heute schreibt er Romane, im Radio laufen seine Kolumnen.

01.12.2017

Sebastian Lehmann, 35, stammt aus Freiburg und lebt heute in Berlin. An der Freien Universität studierte er Literatur, Philosophie und Geschichte.

Sebastian Lehmann, 35, stammt aus Freiburg und lebt heute in Berlin. An der Freien Universität studierte er Literatur, Philosophie und Geschichte.
Bildquelle: Miriam Klingl

Sebastian Lehmann kam 2003 nach Berlin, um an der Freien Universität Literatur, Philosophie und Geschichte zu studieren. Noch während des Studiums tritt er mit eigenen Texten bei Poetry Slams auf. Heute schreibt er Romane, im Radio laufen seine Kolumnen. Ein Gespräch über Berlin-Klischees, Romanfiguren und die Suche nach dem richtigen Lebensweg.

wir: Sebastian, man könnte etwas neidisch werden, wenn man über dich liest: Du schreibst Bücher, stehst auf Bühnen, bist im Radio zu hören. Ist dein Leben ein einziger Erfolg?

Sebastian Lehmann: Es ist eher ein Auf und Ab. Meinen Lebensunterhalt verdiene ich ja hauptsächlich mit Auftritten, durch die regelmäßigen Radiokolumnen ist mein Leben finanziell aber ein bisschen planbarer geworden, ich muss nicht immer gucken, dass bei den Auftritten genug Leute kommen, damit ich meine Miete zahlen kann. Ich bin grade auch viel unterwegs auf Lesungen, es läuft also ganz gut.

wir: Du stehst seit mittlerweile 15 Jahren auf der Bühne – unter anderem als Poetry Slammer. Wie erklärst du Familie oder Freunden, was ein Poetry Slam ist?

Sebastian Lehmann: Poetry Slam ist einfach ein Veranstaltungsformat und keine Literaturrichtung. Alle, die daran teilnehmen, haben fünf Minuten Zeit und können im Prinzip alles vorlesen oder vortragen, was sie möchten. Hauptsache, es ist selbst geschrieben. Am Ende stimmt das Publikum darüber ab, wer den besten Text vorgelesen hat.

wir: Gab es in deiner Karriere auch mal einen Moment, in dem du an dir gezweifelt hast oder dachtest: „Oh Gott, das ist das Schlimmste was ich jemals getan habe, das mache ich nie wieder“?

Sebastian Lehmann: Es gab kein wirklich schlimmes Erlebnis, aber es gibt natürlich Auftritte, bei denen man einen neuen Text vorliest und merkt: Nee, da musst du nochmal ran – oder es ist unangenehm, den Text zu Ende zu lesen. Ganz oft schreibe ich auch was und denke: Super witzig! Und dann gehe ich auf die Bühne und finde es schon selber nicht mehr lustig. Und das Publikum auch nicht.

wir: Auf der Bühne und in deinen Podcasts bist du ja oft in der Rolle des Witzboldes. Ist das manchmal anstrengend?

Sebastian Lehmann: Es ist deswegen nicht so anstrengend, weil ja nicht ich witzig sein muss, meine Texte sollen es sein. Das ist im Podcast „Zwei zu viel“, der grade bei radioeins läuft, ein bisschen anders, weil mein Kollege Julius Fischer und ich frei reden und spontan reagieren müssen. Ich habe aber keine Kunstfigur, aus der heraus ich immer lustig sein muss. Ich kann auch mal einen weniger originellen Text vorlesen, kann auch etwas Ernstes oder Politisches sagen. Von daher finde ich das gar nicht so anstrengend.

wir: Du hast Literatur, Philosophie und Geschichte studiert. Warum diese Fächer?

Sebastian Lehmann: Ich hatte in Freiburg, meiner Heimatstadt, einen sehr guten Deutsch-Leistungskurs, und es war irgendwie klar, dass ich Literaturwissenschaft als Hauptfach machen will. Und dann habe ich geguckt, was es noch so gibt. In Geschichte war ich auch ganz gut, und so hat sich das angeboten. Bei Philosophie hatte ich die diffuse Vorstellung, dass ich da etwas über das Sein und die Welt lerne. Am Anfang des Studiums war ich aber eher verwirrt, als dass ich sofort verstanden hätte, was das Leben und das Sein bedeuten.

wir: Wie war deine Studienzeit?

Sebastian Lehmann: Mir fällt zum Studienstart immer ein, wie ich in der Rostlaube herumlaufe. Ich kann mich erinnern, dass da noch nicht renoviert war, es gab einen roten Teppichboden mit vielen Zigarettenflecken – und ich dachte: ‚Das ist jetzt die Uni, an der du studieren wirst.‘ Das war schon sehr prägend. Wenn ich heute durch die Rostlaube gehe, wundere ich mich immer noch, dass es da jetzt nicht mehr so aussieht. Und ich hatte als Magisterstudent einiges an Freiheit. Studentinnen und Studenten, die heute den Bachelor machen, haben diese Freiheit wohl nicht mehr in dem Maße. Das Studium ist eher verschult – das ist gerade für Fächer wie Philosophie oder Literatur vielleicht nicht das richtige Konzept. Andererseits ist es aber auch gar nicht so schlecht, wenn es ein bisschen Druck gibt. Manchmal hätte ich mir das für mein Studium gewünscht.

wir: Hat das Studium dein Denken verändert, dich für dein späteres Leben geprägt?

Sebastian Lehmann: Ich glaube ja. Man lernt während eines geisteswissenschaftlichen Studiums, dass man permanent seinen Blick auf die Dinge ändern kann. Man lernt, dass es viele verschiedene Wege gibt, Vorgänge zu verstehen, dass es nicht die eine Wahrheit gibt. Anders als in der Politik, in der manchmal behauptet wird: Dies ist richtig, jenes ist falsch.

wir: Neben „Zwei zu viel“ läuft bei radioeins auch deine Reihe „Elterntelefonate“. Darin sind deine Eltern unter anderem in der Rolle, über dein Leben in Berlin nicht sehr erfreut zu sein und sie unterstellen dir eine gewisse Erfolglosigkeit. Ist das ein Spiel mit dem Klischee des philosophierenden Taxifahrers? Sebastian Lehmann: Bei dieser Radiokolumne telefoniere ich mit meinen Eltern in Süddeutschland – und es gibt im Süden durchaus bei manchen die Vorstellung, dass in Berlin nichts funktioniert, nichts fertig wird. Es gibt eine Folge, in der mein Vater sagt: „Du bist wie der Flughafen, du wirst auch nicht fertig mit dem Studieren“. Es kommt auch tatsächlich manchmal vor, dass Leute sich fragen: „Was hat der denn da studiert? Das ist ja gar nichts, womit man gleich einen Beruf ergreifen kann.“ In Hinblick auf meinen Beruf als Schriftsteller ist die erste Frage eigentlich immer: „Kann man davon leben?“ Ich habe aber auch das Gefühl, dass viele es toll finden, wenn man sich mit philosophischen oder literaturwissenschaftlichen Theorien beschäftigt oder Bücher schreibt. Insofern ist das, was ich mit der Kolumne mache, natürlich überspitzt und ein Spiel mit Klischees.

wir: In vielen deiner Bühnentexte trittst du als „Sebastian“ auf. In welchem Verhältnis stehen der Bühnen- und der reale Sebastian?

Sebastian Lehmann: Ich habe zwar nicht 55 Jugendkulturen durchgemacht, wie ich das in einer Textreihe von mir behaupte, aber natürlich gibt es Wechselwirkungen. Auf der Bühne steht nicht wirklich der private Sebastian, die Bühnenfigur ist aber auch nicht komplett davon zu unterscheiden. Gerade beim Poetry Slam, wenn ich auf der Bühne aus der Ich-Pespektive spreche, dann weiß der Zuschauer nicht sofort: Ist das jetzt der „echte“ Sebastian? Sind seine Eltern wirklich so seltsam? Sind seine Eltern so wie meine? Diese Gedanken finde ich ganz interes-sant, aber natürlich ist mein Bühnenprogramm nicht autobiografisch. Dafür wäre mein Leben auch zu langweilig.

wir: Du bist heute ein erfolgreicher Autor, aber das war nicht immer so. Fiel dir die Entscheidung leicht, als freier Künstler zu arbeiten?

Sebastian Lehmann: Es war gar nicht so eine eindeutige Entscheidung. Ich habe halt diese Sachen – also auftreten, schreiben, Lesebühne – das ganze Studium über schon gemacht, und das wurde immer wichtiger. Die einzige Entscheidung war vielleicht zu sagen: „Wenn ich jetzt wirklich schreiben und auftreten will, dann muss ich das hauptberuflich machen, weil das viele Rumfahren und die vielen Auftritte nicht so gut vereinbar sind mit einer festen Anstellung.“

wir: In deinem neuen Roman „Parallel leben“ geht es um den Doktoranden Paul Ferber, der mit dem Thema seiner Doktorarbeit und dem Universitätsleben nicht mehr zufrieden ist. Auch sein Doktorvater, die Figur des Professors Emrald, erscheint eher als enttäuschte Wissenschafts- Koryphäe. Hört sich fast an wie eine Art „Abrechnung“ mit dem universitären Betrieb.

Sebastian Lehmann: Nein, ich finde nicht, dass es eine Abrechnung ist. Die älteren Professoren, die ich gerade am Anfang meines Studiums erlebt habe, waren idealistisch und hatten Spaß daran, an der Uni zu sein. Sie waren überzeugt von ihren wissenschaftlichen Themen. Professor Emrald ist zwar auch überzeugt von seinen Themen, aber er schafft es nicht, sein Leben an der Uni mit seiner Vorstellung davon zu vereinbaren, wie sein Leben hätte sein sollen. Emrald ist eine Art Zwischenfigur aus dem Schriftsteller Thomas Bernhard, der ja auch Emralds großer Liebling ist, und Doctor House, würde ich sagen. Dass der Roman an der Uni spielt, liegt im Grunde daran, dass ich ja nie einen richtigen Job hatte und ich ein Umfeld brauchte, das ich kenne. Deswegen konnte ich die Hauptfigur nicht in einer Arztpraxis arbeiten oder Anwalt sein lassen. Ich selbst war nicht enttäuscht vom Universitätsbetrieb – ich höre nur immer wieder, dass es heute manchmal schwer ist, an der Uni zu „überleben“, dass Druck und Konkurrenzkampf groß sind.

Sebastian Lehmann: „Als Schriftsteller werde ich sofort gefragt, ob ich davon leben kann.“

Sebastian Lehmann: „Als Schriftsteller werde ich sofort gefragt, ob ich davon leben kann.“
Bildquelle: Miriam Klingl

wir: Was sind für dich die zentralen Themen von „Parallel leben“?

Sebastian Lehmann: Ein zentrales Thema ist das Thema der Identität. Was macht einen zu dem, was man ist? Gibt es überhaupt so etwas wie eine Identität? Ändert sich die Rolle, die man spielt, nicht die ganze Zeit? Kann ich zwei unterschiedliche Leben führen, die sich nicht überschneiden – ähnlich wie die Figur des Walther Faber in Max Frischs Roman „Homo Faber“? Faber begreift sein Leben ja wie eine mathematische Figur und behauptet: „Alles ist berechenbar.“ Aber am Ende muss er erkennen, dass eben nicht alles berechenbar ist. Meine Figur Paul Ferber ist sozusagen die Steigerung davon – deswegen auch der Name. Paul erkennt nicht, dass nicht alles berechenbar ist, dass viele Sachen passieren, die er gar nicht in der Hand hat.

wir: Sowohl in deinem ersten Roman „Genau mein Beutelschema“, als auch in deinem neuen Roman „Parallel leben“ gibt es Frauenfiguren, die sehr viel arbeiten und an ihrem Lebenslauf feilen. Die männlichen Protagonisten stehen im Kontrast dazu: Paul Ferber aus „Parallel leben“ hat sich selten für irgendetwas eingesetzt und auch wenig darüber nachgedacht, wie er eigentlich leben will.

Sebastian Lehmann: Die Parallelität zwischen den zwei Romanen ist mir selbst noch gar nicht aufgefallen, aber das stimmt natürlich. Wenn man in die Dreißiger kommt, muss man sich ja mal die Frage stellen: „Wie will ich meine Zukunft organisieren? Mache ich jetzt Karriere? Will ich viel arbeiten? Geht es darum, den perfekten Lebenslauf zu erschaffen?“ Diese Fragen haben mich und meine Freunde sehr beschäftigt, als wir mit Ende zwanzig aus der Uni kamen und plötzlich Entscheidungen treffen und Verantwortung übernehmen mussten. Mein Hauptcharakter Paul möchte allerdings nicht so gern Verantwortung übernehmen. wir: Was ist los mit diesen passiven Männerfiguren in deinen Romanen? Sebastian Lehmann: Paul denkt zwar, dass er passiv sei, er ist es aber eigentlich gar nicht. Er denkt, er entscheidet sich nicht, oder glaubt, dass ihm einfach alles so passiert. Aber das stimmt nicht. Man entscheidet sich permanent. Auch wenn man sich nicht für eine Sache entscheidet, entscheidet man sich. wir: Gibt es ein Thema, mit dem du dich in nächster Zeit gerne auseinandersetzen würdest? Sebastian Lehmann: Ja, die 00er-Jahre in Berlin. Ich finde, die werden wirklich unterschätzt. Darüber werde ich sicher noch einen Roman schreiben.

Das Interview führte Nora Lessing.