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Das Spiel mit der Wahrnehmung

Marion Poschmann, ehemalige Studentin der Freien Universität, ist eine der bedeutendsten deutschen Schriftstellerinnen der Gegenwart. Für ihr Gesamtwerk erhält sie nun den Berliner Literaturpreis.

01.12.2017

Die Schriftstellerin Marion Poschmann hat sich in den vergangenen Jahren eine feste Leserschaft erschlossen – das Schreiben, sagt sie bescheiden, falle ihr leicht.

Die Schriftstellerin Marion Poschmann hat sich in den vergangenen Jahren eine feste Leserschaft erschlossen – das Schreiben, sagt sie bescheiden, falle ihr leicht.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Für die Schriftstellerin Marion Poschmann war 2017 ein besonderes Jahr: Sie hat nicht nur ihren vierten Roman „Die Kieferninseln“ veröffentlicht, ihr Werk wurde auch wenige Wochen nach Erscheinen für den Deutschen Buchpreis nominiert. Der Roman schaffte den Sprung bis in die Endauswahl, also auf die sogenannte Shortlist. Zuvor hat die Stiftung Preußische Seehandlung bekannt gegeben, dass Marion Poschmann für ihr Gesamtwerk den diesjährigen Berliner Literaturpreis erhält. Aus diesem Anlass wird sie im nächsten Jahr die Gastprofessur für deutschsprachige Poetik der Stiftung Preußische Seehandlung an der Freien Universität Berlin innehaben und am dortigen Peter-Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft lehren.

„Das freut mich sehr“, sagt Marion Poschmann, die wir in ihrem Stammcafé in Berlin Prenzlauer Berg treffen, in der Nähe ihrer Wohnung. Die Autorin hat eine besondere Verbindung zur Freien Universität: Sie schloss hier in den Neunziger Jahren ihr Studium der Germanistik und Philosophie mit einer Arbeit zur österreichischen Schriftstellerin Friederike Mayröcker ab. Danach hatte sie ein Promotionsstudium begonnen. „Das habe ich aber zugunsten des Schreibens wieder aufgegeben. Eigentlich war mir schon früh klar, dass ich Autorin werden will.“ Die Berliner Zeit habe sie in vielerlei Hinsicht geprägt, betont Poschmann, die 1969 in Essen geboren wurde und 1991 zum Studieren nach Berlin kam. Denn während des Germanistik- Studiums sei sie auf einen Text gestoßen, der im Grunde alle Kernfragen ihres ästhetischen Schaffens thematisiert: „Ich habe ein Bändchen mit Gesprächen zwischen David Sylvester und dem Maler Francis Bacon entdeckt. Dort wer-den jene Themen verhandelt, die auch mich umtreiben: Was macht Wahrnehmung aus? Wie entsteht ein Gefühl für Raum und Zeit? Welche Rolle spielt der Zufall in der Kunst?“ In den Gesprächen thematisiert der britische Maler Francis Bacon (1909-1992) seine künstlerischen Verfahrensweisen – etwa warum er manchmal einen Schwamm auf ein fertiges, wohl komponiertes Bild wirft und was das mit dem ästhetischen Verfahren der Verfremdung zu tun hat: „Auf diese Weise hat Bacon versucht, in seinen Motiven die rationale Ebene zu umgehen und das Nervenzentrum des Betrachters zu treffen. Das Gemalte an sich, das Material, das Medium sollte ins Bewusstsein treten“, erzählt Poschmann. Ein ähnliches Verfahren wolle auch sie in ihrer Literatur anwenden: Es gehe darum, Phrasen und Klischees zu vermeiden und das Alltagsbewusstsein infrage zu stellen. „Mein Anliegen ist es, gewohnte Ansichten aufzubrechen.“

Schon bei ihrem ersten Roman, „Baden bei Gewitter“, hat sich Poschmann mit den Fragen nach der Rolle der menschlichen Wahrnehmung und der Entgrenzung von Perspektiven beschäftigt. „Der erste Roman hat nicht viel nacherzählbare Handlung“, sagt die Autorin offen. „Es geht um eine Begegnung zwischen einem älterem Mann und einer jüngeren Frau und wie sich deren Sicht auf die Welt unterscheidet. Ich wollte darstellen, wie unterschiedlich zwei Menschen auf ein- und dieselbe Sache blicken, wie sie unterschiedlich wahrnehmen können.“

Der Lyrik-Band „Verschlossene Kammern“ macht Marion Poschman zu einer festen Größe im deutschen Literaturbetrieb

Als das Manuskript fertig geschrieben war, schickte die Autorin den Text an verschiedene Verlage und bekam, ohne lange warten zu müssen, sogleich eine positive Antwort. Und das ausgerechnet von Joachim Unseld, dem bedeutenden Verleger der Frankfurter Verlagsanstalt. Es war das Jahr 2002, als Poschmanns Debüt erschien. Im gleichen Jahr folgte die Veröffentlichung des Lyrik-Bandes „Verschlossene Kammern“, der die Autorin zu einer festen Größe im deutschen Literaturbetrieb machte. Ihr Interesse, sagt sie heute rückblickend, sei immer konstant geblieben: „Mich interessieren immer noch die gleichen Dinge wie am Anfang meines literarischen Werdegangs.“ Das beziehe sie nicht nur auf die Thematiken, die sie beschäftigen, sondern auch auf die Gattungen, in denen sie sich bewegt – also in der Lyrik und Prosa. „Ich verstehe eigentlich nicht, warum sich andere auf eine Form beschränken. Ich sehe da keinen großen Widerspruch, sowohl Lyrik als auch Prosa zu schreiben“, sagt die Autorin. In der Moderne seien die Gattungsgrenzen flexibel, das sei doch ein Vorteil: „In meinen Romanen gibt es essayistische Passagen, in der Dichtung narrative Strecken. Diese Mischformen und Übergänge finde ich interessant. Ich will da keine Trennungen.“

Poschmann hat sich in den vergangenen Jahren eine feste Leserschaft erschlossen. Das Schreiben, sagt sie bescheiden, falle ihr leicht. Diesen Ehrgeiz erkennt man anhand ihrer langen Publikationsliste: 2005 erschien ihr zweiter Roman, der „Schwarzweißroman“. Im Jahr 2010 die Gedichtsammlung „Geistersehen“, drei Jahre später der viel gefeierte Roman „Die Sonnenposition“. Er erzählt die Geschichte eines Psychiaters, der in einem barocken Schloss in Ostdeutschland seine Patienten aufopferungsvoll behandelt – und allmählich selbst an seinen Ansprüchen zu scheitern droht. Es ist ein Text, der in einer feinen, nuancierten Sprache die Grenzen der Erkenntnis auslotet. Ein poetisches Werk, das sich zwischen Licht und Schatten bewegt und ein poetisches Gefühl für die Welt heraufbeschwört. Dieses Jahr ist Marion Poschmanns neuester Roman erschienen, ihr fünftes Buch bei Suhrkamp, wo sie seit 2010 unter Vertrag steht: „Die Kieferninseln“. Er erzählt die Geschichte von Gil-bert Silvester, einem Privatdozenten und Bartforscher, der eines Nachts davon träumt, dass ihn seine Frau betrügt. In einer absurden Kurzschlusshandlung verlässt er sie, steigt ins erstbeste Flugzeug und reist nach Japan, um Abstand zu gewinnen. Dort fallen ihm die Reisebeschreibungen des japanischen Dichters Matsuo Basho (1644-1694) in die Hände. Plötzlich hat er ein Ziel: Er will wie die alten Wandermönche den Mond über den japanischen Kieferninseln sehen. Der Forscher macht sich auf eine Reise, bei der er einen jungen Studenten trifft, der seinen Suizid plant. Die beiden ungleichen Männer kommen sich in ihrer Lebenskrise näher – und gewinnen dabei ungewohnte Perspektiven auf ihr Leben.

Und wie ist Poschmann auf dieses Thema gekommen? Die Autorin zögert: „Ich kann das oft wirklich nicht rekonstruieren“, gesteht sie offen. „Ich arbeite nicht geplant, ich mache mir keine Skizze, das ergibt sich meistens erst aus der Arbeit heraus.“ Ein Erlebnis gab es dann aber doch, das mit der Romanentstehung zu tun hat: Marion Poschmann hat 2014 eine Reise nach Japan gemacht, um einen dreimonatigen Aufenthalt am Goethe-Institut in Kyoto zu verbringen. Doch sie hat sich nicht so sehr mit dem Schreiben beschäftigt, sondern vor allem mit anderen ästhetischen Ausdrucksformen wie der Gartenkunst. „So kam ich auf diese Idee der Dichterreise, es bringt das Thema des Sehens auf den Punkt: Wie sieht ein Dichter eine Landschaft? Was kann die Poesie, was kann die Wahrnehmung bewirken?“ Auch in diesem Werk gehe es wieder um einen neuen, unbekannten, ungewohnten Blick auf die Welt.

Und welches Projekt kommt als nächstes? Wird es ein Roman werden oder doch wieder Lyrik? Die Autorin wisse es noch nicht, dafür sei es noch zu früh. „Erst einmal muss ich wieder Zeit zum Schreiben finden“, sagt Marion Poschmann und lächelt. Die nächsten Monate seien mit Lesereisen und Presseterminen ausgebucht. Das Leben als Schriftstellerin – es ist turbulenter, als man vermuten würde.