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Mehr als 16.000 West-Berliner Polizeibeamte waren im Visier der Stasi

Polizeipräsident in Berlin und Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität stellen Untersuchungsergebnisse zu Aktivitäten des DDR-Geheimdienstes vor

Nr. 205/2014 vom 04.06.2014

Die West-Berliner Polizei war einer Studie der Freien Universität zufolge in den letzten zwei Jahrzehnten vor dem Untergang der DDR die am intensivsten durch den Staatssicherheitsdienst überwachte Berufsgruppe im freien Teil der Stadt. Bereits in den frühen siebziger Jahren habe das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) über eine umfassende Personalkartei (Kerblochkartei) der West-Berliner Polizei verfügt, erklärten die Politologen Prof. Dr. Klaus Schroeder und Dr. Jochen Staadt bei der Vorstellung einer Studie im Auftrag des Polizeipräsidenten in Berlin. In der Kartei seien bis 1972 bereits 7.209 Polizeibeamte mit Angaben zur Dienststellung und Privatadressen erfasst gewesen. „Nach der Einführung der EDV-Erfassung und der Ausweitung der Zuständigkeit für die West-Berliner Polizei auf mehrere MfS-Diensteinheiten gelang dem MfS bis Ende der achtziger Jahre die Registrierung von etwa 80 Prozent der über 20.000 Beschäftigten im West-Berliner Polizeidienst“, erläuterte der Politologe Klaus Schroeder. Das MfS habe schließlich nicht nur über detaillierte Datensammlungen zum Innenleben der West-Berliner Polizei verfügt, sondern auch über personenbezogene Daten zu den dienstlichen Obliegenheiten einer großen Zahl von Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten. „Die Stasi wusste vieles über deren finanzielle Situation, Privatadressen und Telefonanschlüsse, ja sogar vielfach auch über ihr privates Umfeld“, sagte Jochen Staadt. Der Polizeipräsident in Berlin, Klaus Kandt, betonte, dass - trotz des hohen Aufwands des MfS - eine Unterwanderung der Polizei West-Berlins nicht gelungen ist.

Die Zahl der MfS-Informanten innerhalb der West-Berliner Polizei lag für den Untersuchungszeitraum von 1972 bis 1989 niedriger als in den fünfziger und sechziger Jahren. Für den gesamten Untersuchungszeitraum vom 1950 bis 1989 sind den BStU-Unterlagen mehrere hundert Inoffizielle Mitarbeiter zu entnehmen, die zur Informationsgewinnung in oder im Umfeld der West-Berliner Polizei und ihres Personals zum Einsatz kamen. Die Platzierung von Karl-Heinz Kurras beim Staatsschutz war nach Einschätzung von Klaus Schroeder „ein herausragender Ausnahmeerfolg“ für den DDR-Staatssicherheitsdienst. In der Zeit nach 1972 sei dem MfS trotz erheblichen Aufwands kein vergleichbarer Spionageerfolg mehr gelungen. Allerdings wuchs der Kenntnisstand des MfS über interne Dienstvorgänge der West-Berliner Polizei durch den Ausbau der elektronischen Abhörmaßnahmen erheblich an, wie Schroeder erläuterte. Es gelang dem MfS sogar, in das polizeiliche Informationssystem (Fahndungssystem) der Landespolizeien INPOL einzudringen und dort eigene Abfragen einzuspeisen.

Mit dem Aufkommen des deutschen und internationalen Terrorismus fiel dem DDR-Staatssicherheitsdienst Jochen Staadt zufolge seit Anfang der siebziger Jahre die Aufgabe der Überwachung und Abschirmung von im Westen gesuchten Terroristen zu, die das Gebiet der DDR zum Transit beziehungsweise als Basis nutzten. „Mit der Begünstigung von Terroristen durch den DDR-Staatssicherheitsdienst in den siebziger und achtziger Jahren war eine intensive Ausforschung der polizeilichen Fahndungsmaßnahmen in West-Berlin verbunden, denn auf keinen Fall sollte dieser Aspekt der MfS-Tätigkeit westlichen Ermittlungsbehörden oder gar der internationalen Öffentlichkeit bekannt werden.“ So sei dem MfS bereits eine Woche vor dem Anschlag auf die Diskothek „La Belle“ in Berlin-Schöneberg bekannt geworden, dass eine Terror-Aktion unmittelbar bevorstand. In der Gruppe, die an Vorbereitungshandlungen beteiligt war, befand sich ein Inoffizieller Mitarbeiter des MfS mit Decknamen „Alba“. Ein in Berlin-Kreuzberg wohnender Student der Technischen Universität Berlin aus Palästina hatte drei mögliche Ziele ausgekundschaftet, darunter die Diskothek „La Belle“ für die sich die Gruppe am 26. März 1986 entschied, da – so der MfS Bericht – von dort aus „die Bedingungen für den Rückzug der Attentäter über eine GÜSt zur Hauptstadt, als am günstigsten angesehen wurden“. Die Abkürzung GÜSt stand für Grenzübergangsstelle

Das Ministerium für Staatssicherheit sah nach Einschätzung von Klaus Schroeder in der West-Berliner Polizei auch in den siebziger und achtziger Jahren „grundsätzlich eine Unterdrückungseinrichtung zur Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems in West-Berlin sowie eine den Westalliierten militärisch unterstellte Kampfeinheit“. Die von der DDR-Führung lange gehegt These, der zufolge die West-Berliner Polizei eine militärische Rolle bei einem etwaigen Angriff von westalliierten Streitkräften auf die DDR wahrnehmen könnte, blieb angesichts der eigenen Spionageergebnisse des MfS nicht mehr haltbar. „Sie ist stillschweigend aus dem einschlägigen Schrifttum verschwunden“, erläuterte Schroeder. „Die genaue Kenntnis des Personals, der Gebäude und der Ausrüstung der West-Berliner Polizei blieben aber für eine Stunde der Entscheidung (Stunde X) von Bedeutung, falls West-Berlin in die Verfügungsgewalt der Sowjetunion und der DDR geraten würde.“ Besatzungspläne des MfS wurden in Kooperation mit der Nationalen Volksarmee und der Volkspolizei bis in die späten achtziger Jahre immer wieder auf den neuesten Stand gebracht.

Die Studienergebnisse wurden in dem Buch „Feindwärts der Mauer. Das Ministerium für Staatssicherheit und die West-Berliner Polizei“ zusammengefasst. Die im Verlag Peter Lang erschienene Dokumentation umfasst 487 Seiten und kostet 39,95 €. ISBN 978-3-631-65070-7.

Weitere Informationen

  • Prof. Dr. Klaus Schroeder, Freie Universität Berlin, Forschungsverbund SED-Staat, Koserstraße 21, 14195 Berlin, Tel.: 030/838-56008, E-Mail: k.schroeder@fu-berlin.de
  • Dr. Jochen Staadt, Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität Berlin, Telefon: 030 / 838-52091 oder -55562, E-Mail: j.staadt@fu-berlin.de