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Vagabundieren als Lebensthema

Bei seiner Antrittsvorlesung sprach der haitianische Schriftsteller Louis-Philippe Dalembert, derzeit Samuel-Fischer-Gastprofessor, über den Einfluss seiner Kindheit auf sein literarisches Schaffen

01.11.2018

Beim anschließenden Empfang: Louis-Philippe Dalembert mit Professorin Claudia Olk (r.) und Professor Michael Gamper vom Peter-Szondi-Institut der Freien Universität.

Beim anschließenden Empfang: Louis-Philippe Dalembert mit Professorin Claudia Olk (r.) und Professor Michael Gamper vom Peter-Szondi-Institut der Freien Universität.
Bildquelle: Peter Schraeder

Schon als kleiner Junge liebte Louis-Philippe Dalembert das Kino. Ob Western oder Martial-Arts-Filme mit Bruce Lee – Dalembert sah sich an, was im Kino der 1960er und 70er Jahre populär war, selbst wenn er für die Filme eigentlich zu jung war. Wie im Fall des Erotikdramas „Der letzte Tango in Paris“ mit Marlon Brando. Louis-Philippe Dalembert erzählt, wie er sich auf das Gelände des Freiluftkinos schlich und durchs Gebüsch lugte, um nichts zu verpassen. Es gab nur ein Problem: Er sah nur die Bilder, der Ton war nicht zu verstehen. Er habe sich die Dialoge deshalb einfach vorgestellt: „Seither ist etwas zu erzählen für mich dasselbe, wie etwas zu zeigen“, sagt der Schriftsteller heute.

Auseinandersetzung mit der Geschichte Haitis

Inzwischen ist Louis-Philippe Dalembert viellfach ausgezeichneter Schriftsteller, hat Romane, Essays und Gedichtbände veröffentlicht. Im laufenden Wintersemester ist er Samuel-Fischer-Gastprofessor – der 40. der vor 20 Jahren am Peter-Szondi-Institut der Freien Universität Berlin eingerichteten Professur. Deren Jubiläum wird am 5. November im Boulez Saal der Barenboim-Said-Akademie mit einem „Konzert der Worte“ gefeiert.

Louis-Philippe Dalembert setzt sich in seiner Literatur mit der haitischen Kultur- und Kolonialgeschichte auseinander und verknüpft sie mit der Weltgeschichte.

Louis-Philippe Dalembert setzt sich in seiner Literatur mit der haitischen Kultur- und Kolonialgeschichte auseinander und verknüpft sie mit der Weltgeschichte.
Bildquelle: Peter Schraeder

Dalembert schrieb den Großteil seiner Werke auf Französisch, einige jedoch auch in haitianischem Kreolisch. Doch nicht nur sprachlich sind Heimat und Herkunft in seinen Texten gegenwärtig. Häufig macht der Schriftsteller die Geschichte des Inselstaats zum Thema, der im 17. Jahrhundert zur französischen Kolonie wurde, in der afrikanische Sklaven für europäische Plantagenbesitzer schuften mussten.

In Dalemberts Seminar, das er im Rahmen seiner Gastprofessur hält, geht es um beides: um „die außergewöhnliche Geschichte Haitis“ und um andere Ereignisse der Weltgeschichte. Mit den Studierenden will er haitianische Literatur der Gegenwart lesen und Literatur aus anderen Regionen, die sich mit historischen Ereignissen auseinandersetzt. „Mir geht es darum zu fragen: Warum greift jemand literarisch diesen oder jenen Teil der Vergangenheit auf? Welche Bedeutung haben die Ereignisse für ihn?“

Voodoo und Christentum

Haiti zählt heute zu den ärmsten Staaten der Welt. Auch Dalembert wuchs in sehr einfachen Verhältnissen auf, sein Vater starb nur wenige Monate nach seiner Geburt, seine Familie hatte danach nur noch ein geringes Einkommen. Die Erfahrung, ohne Vater aufwachsen zu müssen, beeinflusste den Schriftsteller stark: die Abwesenheit eines Vaters oder der Familie ist ein häufiges Thema in seinen Büchern. So wird im Roman „Die Götter reisen in der Nacht“ ein haitianischer Junge durch einen Voodoo-Zauber von seiner Familie ferngehalten.

Voodoo, eine ursprünglich westafrikanische Religion, die durch Sklaven in die Karibik gebracht wurde, spielte in Dalemberts Werk anfangs keine große Rolle. „Es kostete mich Zeit, über Voodoo zu sprechen oder zu schreiben“, sagt der Schriftsteller, der in einer jüdisch-christlichen Familie aufgewachsen ist und eine katholische Schule besuchte. Seine Großmutter hielt die traditionellen Riten für Teufelszeug. Erst als Erwachsener habe er sich über das alte Verbot seiner Großmutter hinwegsetzen können: „Mein Interesse am Voodoo beruht auf intellektueller Neugier“, sagt Dalembert.

Lebensthema Vagabundieren

Heute lebt der Schriftsteller nur noch zeitweise in Haiti. Er verließ die Insel in den 1980er Jahren, um in Frankreich Literaturwissenschaft zu studieren. Seither ist das „Vagabundieren“, wie Dalembert seine Reisen durch Europa, die USA und die Karibik nennt, für ihn zu einem wichtigen Lebensthema geworden.

In seinem 1996 verfassten Roman „Gottes Bleistift hat keinen Radiergummi“ greift er genau dieses Thema auf. Dalembert schildert eine Rückkehr auf die Insel nach langjähriger Abwesenheit. Die Hauptfigur des Romans besucht einen väterlichen Freund aus Kindheitstagen und realisiert, wie sehr sich das Leben auf der Insel verändert hat. Nach einer solchen Rückkehr bekäme man ein ganz anderes Verständnis für zeitliche Dimensionen, sagt der Schriftsteller. Denn für die Menschen vor Ort verliefen die Veränderungen so schleichend, dass sie sie gar nicht bemerkten.

Weitere Informationen

Einladung

Jubiläumsfeier 20 Jahre Samuel-Fischer-Gastprofessur an der Freien Universität Berlin „Konzert der Worte“

  • 5. November 2018, 19 Uhr
  • Pierre Boulez Saal (Barenboim-Said-Akademie), Französische Straße 33D, 10117 Berlin

Für die literarisch-musikalische Festveranstaltung mit dem ungarischen Autor László Krasznahorkai (Gastprofessor 2008), der österreichischen Schriftstellerin Teresa Präauer (Gastprofessorin 2016) und dem haitianischen Autor Louis-Philippe Dalembert ist eine Anmeldung erforderlich. Der Eintritt ist frei.

Die 1998 am Peter-Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität eingerichtete Professur will das Gespräch zwischen Studierenden und Literaten stiften, Weltliteratur nach Berlin bringen und die kritische Auseinandersetzung mit ihr fördern. Die Professur wird getragen von der Freien Universität, dem Veranstaltungsforum Holtzbrinck Publishing Group, dem S. Fischer Verlag und dem Deutschen Akademischen Austauschdienst.

Ehemalige Gastprofessorinnen und Gastprofessoren

Edouard Louis, Joshua Cohen, Lavinia Greenlaw, Abdourahman Waberi, Teresa Präauer, Alice Oswald, Viktor Jerofejew, Cécile Wajsbrot, Héctor Abad, David Hinton, Javier Cercas, Andrew Sean Greer, Abdelwahab Meddeb, Nedim Gürsel, Daniel Kehlmann und Adam Thirlwell, Sara Stridsberg, Tomas Venclova, Mircea Cartarescu, Richard Powers, Raoul Schrott, László Krasznahorkai, Sjón (Sigurjón Birgir Sigurðsson), Nuruddin Farah, Fernando Pérez, Dubravka Ugrešic, Amit Chaudhuri, Michèle Métail, Nora Amin, Feridun Zaimoglu, Etgar Keret, Alberto Manguel, Yann Martel, Robert Hass, Marlene Streeruwitz, Sergio Ramírez, Scott Bradfield, Kenzaburo Oe, V. Y. Mudimbe, Vladimir Sorokin.

Weitere Informationen

Christine Laule, Veranstaltungsforum Holtzbrinck Publishing Group, Telefon: 030/ 278718-13 oder E-Mail: christine.laule@vf-holtzbrinck.de

www.sfischergastprofessur.de