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Was ist Prosa? Müssen literarische Gattungen sein?

Zwei Veranstaltungen der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien befassen sich mit Gattungsfragen / Bewerbungen für die Summer School bis 31. März

14.03.2018

Roman, Gedicht, Krimi, Biografie – bieten Genrebezeichnungen in der Literatur wirklich die Klarheit, die sie zu versprechen scheinen?

Roman, Gedicht, Krimi, Biografie – bieten Genrebezeichnungen in der Literatur wirklich die Klarheit, die sie zu versprechen scheinen?
Bildquelle: Pixabay

Im Jahr 1719 erschien in London ein Bericht über „das Leben und die unerhörten Abenteuer“ eines englischen Seefahrers, dem Titelblatt zufolge „von ihm selbst beschrieben“. Im Vorwort des Buches versicherte ein anonymer Herausgeber, dass „keine Anzeichen einer freien Erfindung“ enthalten seien. Der zu der Zeit bekannte Schriftsteller Charles Gildon veröffentlichte daraufhin ein Pamphlet, das das Buch als Lügengeschichte zu entlarven suchte. Der besagte Seefahrer hieß Robinson Crusoe – und Gildon hatte natürlich Recht: Wie bei allen Romanen handelte es sich auch bei Defoes Werk um eine erfundene Geschichte. Obwohl oder vielleicht gerade weil der Roman durchweg als Autobiografie gelesen wurde, avancierte Robinson Crusoe unmittelbar nach seinem Erscheinen zum Bestseller. Daran konnte auch der sich betrogen fühlende Charles Gildon nichts ändern. Der Fall Robinson Crusoe illustriert, wie die Nichterfüllung von Lesererwartungen, die an ein bestimmtes Genre gestellt werden, zu Empörung und Unbehagen führen kann. Oder anders gesagt: zu Genre Trouble.

„Genre Trouble – Poetik und Politik der Gattungen“

„Genre Trouble – Poetik und Politik der Gattungen“ lautet der Titel der diesjährigen Summer School der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien, die vom 22. bis 29. Juli an der Freien Universität stattfindet. In Diskussionen, Vorträgen und Workshops soll es darum gehen, welche genretechnischen Praktiken unseren Umgang mit Literatur strukturieren. Was geschieht, wenn ein Text, der zweideutige Signale sendet, vom Publikum einer bestimmten Gattung zugeschrieben wird und somit eine bestimmte Lesart erhält? Erlauben Genrebezeichnungen saubere Klassifikationen? Werden Gattungen erfunden oder vorgefunden? Und sind Genredefinitionen überhaupt geeignet für die Beschreibung des steten Wandels literarischer Entwicklungen?

Genres – literarische Kategorien wie Bildungsroman, Biografie, Krimi, Science-Fiction usw. – kommen nicht einfach aus dem Nichts, sie werden von Menschen gemacht, von Autorinnen und Autoren, Buchhändlern, Verlegern, Kritikerinnen, Bibliothekaren, Leserinnen und Lesern und natürlich Literaturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern. Die Art und Weise, wie sich Genrebezeichnungen, ihre Aus- und Abgrenzungen und Hierarchisierungen herausbilden, geschehe dabei nicht willkürlich, sagt Anna Beckmann, eine der Summer-School-Organisatorinnen und Doktorandin der Graduiertenschule: „Gattungszuschreibungen entwickeln und konsolidieren sich über längere Zeiträume, als Fortführung eines vorbildlichen Werks oder umgekehrt auch in Ablehnung einer Tradition.“

Häufig seien Genrebezeichnungen verschwommen, uneindeutig und widersprüchlich: Wann ist ein Buch ein Roman, wann eine fiktionale Biografie? Wann ist ein Comic eine Graphic Novel? Gerade für den Buchmarkt sei das Ordnen, Sortieren und Klassifizieren von Texten wichtig, um sie bewerben und verkaufen zu können, erläutert Beckmann. Ein Beispiel hierfür sei die noch relativ junge Genrebezeichnung Graphic Novel: „Durch die Bezeichnung wird versucht, Comics auch für ein Publikum attraktiv zu machen, das sich vorher nicht für Comics interessiert hat.“

Die Summer School richtet sich an Promovierende, Postdoktoranden und fortgeschrittene Masterstudierende der Literatur- und Geisteswissenschaften, für deren Forschung gattungstheoretische Fragen im Fokus stehen. Die Bewerbungsfrist endet am 31. März.

Die Tagung „Prosa“

Zwei Wochen vor der Summer School richtet die Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftlichen Studien die Tagung „Prosa – Zur Geschichte und Theorie einer vernachlässigten Kategorie der Literaturwissenschaften“ aus, die sich ebenfalls mit gattungstheoretischen Grundsatzfragen auseinandersetzt.

Wir leben bekanntlich in einer Zeit, in der eine Gattung, die Prosa, alle anderen unterworfen hat. Was man die Hegemonialstellung des Prosaischen nennen könnte, zeigt sich in den Bestsellerlisten, den Verlagsprogrammen und Buchhandlungen. Selbst in der Literaturwissenschaft wird nicht selten von „der Literatur“ gesprochen, wenn eigentlich nur fiktionale Erzählprosa gemeint ist. Das Anliegen der Tagung sei es deshalb, „Prosa viel breiter als ‚fiktionale Erzählliteratur‘ zu denken“, sagt Svetlana Efimova. Die promovierte Literaturwissenschaftlerin hat die Tagung, die vom 11. bis 13 Juli stattfindet, gemeinsam mit Professor Michael Gamper vom Peter-Szondi-Institut der Freien Universität organisiert.

Was ist Prosa? Warum hat sie sich in der Literatur der Neuzeit immer mehr durchgesetzt? Ist sie die Sprache des bürgerlichen Zeitalters? Diesen und ähnlichen Fragen werden Vertreterinnen und Vertreter der Literaturwissenschaften in ihren Vorträgen nachgehen.

Eine grenzüberschreitende Kategorie

Prosa meint aber nicht nur das gattungsgeschichtliche Andere der Poesie, also Texte, die nicht in Versen verfasst sind. Zusätzlich zur basalen Unterscheidung zwischen freier und gebundener Rede denkt Svetlana Efimova auch an „die alltägliche Realität, die ‚Prosa der Verhältnisse‘, wie es Hegel genannt hat.“ Hegel assoziiert das Prosaische mit der entzauberten Welt der Moderne. Im Rahmen der Tagung soll deswegen auch das Verhältnis von Prosa und Schreibweisen der Sachlichkeit untersucht werden. Denn Prosa ist auch die Sprache der modernen Wissenschaft, Erkenntnissuche und Objektivität: „Ich erinnere mich an eine Notiz von Bertolt Brecht, in der er über die ‚Kraft‘ von literarischen Sätzen nachdenkt und sie mit den Schreibweisen von Juristen und Physikern vergleicht“, sagt Efimova. „Brecht nennt auch diese Texte ‚Literaturen‘ und betont, dass da ‚jedes Wort überlegt‘ sei.“

Das Spektrum der Erzählprosa hat sich im Lauf der Entwicklung neuer Gattungen erheblich erweitert, neue Formen des Kommentars, des Essays, der Geschichtsschreibung usw. überschreiten die Grenzen zwischen Kunst, Wissenschaft und Sachtext. Die Kategorie Prosa biete die Möglichkeit, solche grenzüberschreitenden Phänomene zu fassen, sagt Svetlana Efimova: „Als Prosa kann man auch diejenigen Texte analysieren, die sich anderen Klassifikationen entziehen, wie zum Beispiel ‚Kleine Prosa‘ oder Facebook und Twitter-Posts.“ Der unendliche Strom der Postings auf Facebook kann uferloser sein als die Romane von Robert Musil oder James Joyce, die die Unendlichkeit zwischen zwei Buchdeckel klemmen wollten. „Prosa steht also für Pluralität und Offenheit, aber auch für das Nachdenken über die grundlegenden Eigenschaften der modernen Textualität.“

Zur Teilnahme an der Tagung eingeladen sind Literatur- und Kulturwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen sowie Studierende und das interessierte Publikum.

Weitere Informationen

Tagung „Prosa – Zur Geschichte und Theorie einer vernachlässigten Kategorie der Literaturwissenschaften“
11. bis 13. Juli 2018
Anmeldung bis zum 27. Juni

Summer School „Genre Trouble – Poetik und Politik der Gattungen“
22. bis 29. Juli 2018
Bewerbung bis zum 31. März