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Wenn Literatur Unrecht aufzeigt

Jura- und Literaturwissenschaftsstudierende haben an einem interdisziplinären Seminar zur Dreyfus-Affäre teilgenommen – eine Fortsetzung findet im Wintersemester 2017/18 zum französischen Militäraufstand 1961 in Algerien statt

22.09.2017

Die Titelseite der von Georges Clemenceau herausgegebenen Zeitung L’Aurore vom 13. Januar 1898 mit Émile Zolas J’accuse...! überschriebenem offenen Brief an Staatspräsident Faure zur Dreyfus-Affäre.

Die Titelseite der von Georges Clemenceau herausgegebenen Zeitung L’Aurore vom 13. Januar 1898 mit Émile Zolas J’accuse...! überschriebenem offenen Brief an Staatspräsident Faure zur Dreyfus-Affäre.
Bildquelle: Émile Zola - Scan of L'Aurore /Wikipedia

J’accuse…! – „Ich klage an…!“ überschrieb der französische Schriftsteller Émile Zola 1898 seinen offenen Brief an den Präsidenten der Republik. Zola forderte damals Gerechtigkeit für Alfred Dreyfus: Der jüdische Artillerie-Hauptmann war zu Unrecht von einem Kriegstribunal zu lebenslanger Verbannung verurteilt worden. In der französischen Geschichte ist die Dreyfus-Affäre zu einem beständigen Bezugspunkt in den Auseinandersetzungen zwischen den Kräften der Reaktion und des Fortschritts geworden. Die öffentliche Debatte bis hin zum Freispruch Dreyfus‘ im Jahr 1906 war von einer beispiellosen Welle antisemitischen Hasses begleitet worden, während andere in der französischen Öffentlichkeit für Dreyfus eintraten.

Die Studenten Julian von Hammerstein, Elisabeth Weber, Shira Miron und Stefan Kaupisch (v.l.n.r.) haben an dem interdisziplinären Seminar zur Dreyfus-Affäre teilgenommen.

Die Studenten Julian von Hammerstein, Elisabeth Weber, Shira Miron und Stefan Kaupisch (v.l.n.r.) haben an dem interdisziplinären Seminar zur Dreyfus-Affäre teilgenommen.
Bildquelle: Jonas Huggins

„Mir war gar nicht bewusst, wie relevant die Dreyfus-Affäre heute noch ist“, sagt Elisabeth Weber. Die Jurastudentin hat im Wintersemester 2016/2017 an einem interdisziplinären Seminar teilgenommen, das den Justizskandal aus kriminologischer und literaturwissenschaftlicher Sicht aufgearbeitet hat. Elisabeth Weber hat sich mit Émile Zola auseinandergesetzt, von „J‘accuse!“ bis zu seinem Roman „Vérité“. Susanne Zepp, Literaturwissenschaftsprofessorin am Institut für Romanische Philologie, und Strafrechtsprofessor Klaus Hoffmann-Holland haben das Seminar gemeinsam konzipiert.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer hatten ihre Hausarbeiten bereits geschrieben, als sie sich für ein Blockseminar im Clubhaus der Freien Universität trafen. Jeder sei gut vorbereitet gewesen und habe Lust auf die gemeinsame Diskussion gehabt, sagt Julian von Hammerstein. Der Romanistikstudent hatte sich mit der „Insel der Pinguine“ beschäftigt, Anatole Frances Tiersatire über die Geschichte Frankreichs, in der zentrale Kapitel der Dreyfus-Affäre gewidmet sind. „Von der ersten bis zur letzten Minute waren alle ganz wach“, sagt er. „Das war eine tolle, intensive Atmosphäre.“

Für ein Blockseminar trafen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Clubhaus der Freien Universität.

Für ein Blockseminar trafen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Clubhaus der Freien Universität.
Bildquelle: Jonas Huggins

Weil ihr gemeinsames Seminar die Studierenden so begeistert hat, haben sich Klaus Hoffmann-Holland und Susanne Zepp entschieden, ein weiteres interdisziplinäres Hauptseminar zu entwerfen, diesmal über die strafrechtlichen Folgen und literarischen Bearbeitungen des französischen Militäraufstandes in Algerien vom April 1961. Zum Hintergrund: Bestärkt durch die Verteidiger eines französischen Algeriens, denen die Algerien-Politik des damaligen Präsidenten Charles de Gaulle zu liberal erschien und die eine Unabhängigkeit des Landes mit Gewalt verhindern wollten, hatten am 22. April 1961 die Generäle Maurice Challe, Edmond Jouhaud, Raoul Salan und André Zeller einen Putsch angeführt. Ihr Ziel: Algier unter ihre militärische Kontrolle zu bringen. Ihren Putsch hatten sie über das Radio verkündet. Doch die Mehrheit Frankreichs stellte sich hinter de Gaulle und demonstrierte mit dem bis dahin größten Streik in der Geschichte des Landes, dass der Staatsstreich das Land nicht zu spalten vermochte.

„Wir werden über die öffentlichen Prozesse gegen die Putsch-Generäle im Paris des Frühsommers 1961 und 1963 und deren Folgen diskutieren“, kündigt Klaus Hoffmann-Holland an. „Dabei werden wir auch auf die Umstände der Amnestie der Generäle 1968 zu sprechen kommen.“

Am 21. November veranstalten der Strafrechtler und die Romanistin in Kooperation mit der Stanford University einen Workshop, bei dem aus kriminologisch-strafrechtlicher sowie literaturwissenschaftlicher Perspektive historische Fallstudien untersucht werden sollen. Es geht um Fälle, in denen Recht geschwiegen hat und Literatur die Rolle zufiel, an Rechtsbrüche zu erinnern und ihre Aufarbeitung anzumahnen. „Es kommen spannende Kolleginnen und Kollegen an die Freie Universität“, sagt Susanne Zepp: „Zum Beispiel der Gründungsdirektor der International Human Rights and Conflict Resolution Clinic, Professor James Cavallaro von der Stanford Law School, Professorin Bernadette Meyler, die in Stanford Law and Literature macht, Renana Kedar von der Hebräischen Universität, Elisabeth Anker aus Cornell.“ Nachwuchswissenschaftler der Freien Universität und der Stanford University werden die Vorträge kommentieren und auch eigene Fälle vorstellen. Der Workshop wird Auftakt für weitere wissenschaftliche Veranstaltungen zwischen Palo Alto und Dahlem sein.

Die nächste gemeinsame Lehrveranstaltung ist schon in Planung: Klaus Hoffmann-Holland und Susanne Zepp erarbeiten für das Wintersemester 2018/19 im Tandem mit Kolleginnen der Hebräischen Universität Jerusalem ein digitales „Law and Literature“-Seminar. Es soll ein Beispiel für sogenanntes Blended Learning werden: Der Unterricht wird teilweise vor Ort, teilweise im virtuellen Raum stattfinden und soll die interdisziplinäre Lehre der beiden Wissenschaftler international vernetzen.