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Erzählen 2.0

Studierende der Angewandten Literaturwissenschaft haben Ideen entwickelt, wie Verlage Leser binden könnten

19.02.2015

So sehen Sieger aus: Das studentische Team, das von der Jury gekürt wurde, hat einen interaktiven Krimi entwickelt, bei dem der Leser als Kommissar erfolgreich ermitteln muss, damit das nächste Kapitel freigeschaltet wird.

So sehen Sieger aus: Das studentische Team, das von der Jury gekürt wurde, hat einen interaktiven Krimi entwickelt, bei dem der Leser als Kommissar erfolgreich ermitteln muss, damit das nächste Kapitel freigeschaltet wird.
Bildquelle: David Bedürftig

Papier war gestern. So mag es scheinen, denn die allgegenwärtige Digitalisierung hält auch in das Verlagswesen Einzug. Zeit für einfallsreiche und interaktive Geschäftsmodelle – das haben sich die Studierenden des Masterstudiengangs Angewandte Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin gedacht und kurzerhand einen Innovations-Workshop mit Gründerinnen und Gründern sowie Experten aus der Verlagsbranche organisiert. Vorgestellt und gekürt wurden Projekte, die neue Wege für Leserinnen und Leser sowie Verleger aufzeigen.

Es regnet Bindfäden in dieser Februar-Nacht. Das Telefon schrillt: „Die Polizei hat eine Leiche im Landwehrkanal gefunden – bitte kommen Sie schnell, Herr Kommissar!“ Geschwind den Mantel übergeworfen und den Hut tief ins Gesicht gezogen, macht sich der herbeigerufene Kommissar auf in die nasskalte Dunkelheit, um am Ort des Verbrechens Indizien zu sammeln – und dadurch das nächste Kapitel eines Kriminalromans freizuschalten.

Der herbeigerufene Kommissar? Nein – der Leser. Denn die Szene beschreibt, wie Verlage in Zukunft versuchen könnten, Leserinnen und Lesern Literatur noch schmackhafter zu machen: mithilfe einer Kombination aus Lesen und dem beliebten Phänomen „Geo-Caching“, einer Art moderner Schnitzeljagd mit GPS. Der Leser wird in die Geschichte eingebunden, er erhält auf seinem Handy Nachrichten mit bestimmten Koordinaten und muss vor Ort „ermitteln“, um an die nächsten Seiten des E-Books zu gelangen. Eine Idee, die Studierende des Masterstudiengangs Angewandte Literaturwissenschaft der Freien Universität zusammen mit jungen Branchen-Experten und Start-uppern in einem Innovations-Workshop zu neuen Geschäftsmodellen für die Verlagswelt entwickelt haben.

Über den Seminarraum hinaus weiterdenken

Einen ganzen Tag lang verwandelten die Workshop-Teilnehmer einen Kreuzberger Hinterhof in ein Innovationslabor: Die Kreativgeister diskutierten ihre Ideen, brüteten über digitalen Ansätzen und entwickelten neuartige Konzepte. Organisiert wurde der Innovations-Treff in Eigenregie von den Studierenden als Abschluss des Seminars „Publishing Incubator“, geleitet von Anna Hansch, Projektkoordinatorin Innovation & Entrepreneurship am Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft, und Stefanie Burgert, Manager Recruiting Digital bei Axel Springer. „Die heute wichtigen Themen Innovation, Digitalisierung und Interaktivität sind im Studiengang bisher zu kurz gekommen“, sagt die ehemalige Masterabsolventin Burgert, „deshalb haben wir dieses Seminar ins Leben gerufen.“

Viele Wege führen zum Verlegen

In entspannter Atmosphäre bei Kaffee und Kuchen präsentierten gemischte Teams aus Studierenden und Gründern schließlich ihre Geschäftsmodelle einer Jury. Da war zum Beispiel das digitale Buch für Reisende der Deutschen Bahn, die die notorischen Wartezeiten überbrücken wollen und mittels Bonus-Coins von ihrer Bahncard die ersten Kapitel eines Romans aufs Tablet bekommen (für jede Minute Wartezeit gibt’s natürlich von der Bahn eine Seite extra).

Oder das Computerprogramm „Memory Lane“, das die Lebensgeschichten von Senioren mittels Spracherkennung und Algorithmen aufschreiben und historisch einbetten soll – in Druckform oder als E-Book für die Familie oder den Buchmarkt. Für einige Lacher sorgte die dritte Innovationsgruppe. Sie „warnte“ davor, dass das von ihr entwickelte Konzept für eine interaktive und personalisierte Community-Reise-App mit Verlagsinhalten zu Sehenswürdigkeiten als Dating-App missbraucht werden könnte.

„Radikaler Schritt nach vorne und ein neuer Weg des Erzählens"

„Die Kür des Gewinners“, verkündete schließlich Juror Detlef Bluhm, Geschäftsführer des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, „war eine richtig schwere Entscheidung.“ Bluhm und die weiteren Jury-Mitglieder Simone Brandes, Community Program Manager bei XING AG, und Christina Dicke, Director Engineering bei IXDS GmbH, wählten letzten Endes die interaktive Krimi-Schnitzeljagd aus, bei der die Leserschaft auch selbst Geschichten schreiben und verkaufen soll: „Dieses innovative Konzept ist ein radikaler Schritt nach vorne und ein neuer Weg des Erzählens.“

Masterstudentin Nadja Leibelt zeigte sich vollends zufrieden mit dem Workshop und den Resultaten: „Super, wie wir hier auf Augenhöhe mit Vertretern der Verlagsbranche gearbeitet haben.“ Auch Seminarleiterin Burgert lobte die „tollen und teils schon verrückten Ideen“, die über den Tag hin- und hergespielt wurden: „Wir hoffen, didaktisch Impulse gesetzt zu haben und dass Ideen des Workshops mit nach Hause genommen und vielleicht auch verwirklicht werden.“

Nicht wundern also, wenn bald immer mehr trenchcoattragende Hobby-Kommissare, mit Lupe und Smartphone in der Hand, durch Berlin schleichen sollten.