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Experimentieren im digitalen Zeitalter

Physiker der Freien Universität entwickeln interaktive Bildschirmexperimente

07.08.2013

An Reglern drehen oder auf die Unterlage klopfen: Auch bei digitalen Bildschirmexperimenten gibt es ein beinahe authentisches haptisches Erleben

An Reglern drehen oder auf die Unterlage klopfen: Auch bei digitalen Bildschirmexperimenten gibt es ein beinahe authentisches haptisches Erleben
Bildquelle: Verena Blindow

"Schalte die Ampel!", heißt es in diesem digitalen Versuch. Foto-Animationen zeigen Studierenden unmittelbar, wie sich welche Schaltung auswirkt.

"Schalte die Ampel!", heißt es in diesem digitalen Versuch. Foto-Animationen zeigen Studierenden unmittelbar, wie sich welche Schaltung auswirkt.
Bildquelle: Verena Blindow

Physikalische Versuche jenseits des Labors durchführen? Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Didaktik der Physik am Fachbereich Physik der Freien Universität haben eine Methode entwickelt, die dies ermöglicht – ganz nah an der Realität: Mithilfe von sogenannten Stopp-Trick-Animationen werden physikalische Versuche so aufbereitet, dass sie sich am Bildschirm fast wie im wirklichen Leben bedienen lassen. Eingesetzt werden sie als Ergänzung zu naturwissenschaftlichen Praktika, wo sich erste Erfolge zeigen. Die interaktiven Bildschirmexperimente sind Teil des Projekts „Technology SUPPORTed Labs“ (TSL), dessen Ziel es ist, die Qualität naturwissenschaftlicher Praktika zu steigern. Finanziert wird es durch das Projekt „SUPPORT – Qualitätspakt für die Lehre“ der Freien Universität.

Ob Chemie, Biologie, Physik, oder Veterinärmedizin – Studierende naturwissenschaftlicher Fächer sind stets gefordert, ihr theoretisches Wissen praktisch umzusetzen. In der Physik bedeutet dies in der Regel, auf Grundlage einer bestimmten Fragestellung einen Versuchsaufbau zu erstellen und ein Experiment durchzuführen. „Lernen durch Experimentieren ist ein ganz wesentlicher Faktor bei uns“, erklärt Volkhard Nordmeier. Der Physikprofessor und sein Team arbeiten an verschiedenen E-Learning-Projekten, die alle auf der Interaktion mit digitalen Medien basieren; die sogenannten interaktiven Bildschirmexperimente (IBE) sind eines davon. Nordmeier und seine wissenschaftlichen Mitarbeiter Tobias Gutzler und Daniel Rehfeldt, die auch zu verschiedenen Aspekten der IBE promovieren, sehen darin große Vorteile für den Lernprozess der Studierenden.

Angeregt wurde die Entwicklung auch durch logistische Herausforderungen: Jährlich absolvieren 1000 bis 2000 Studierende aus anderen Fächern – etwa aus den Geowissenschaften – verpflichtende physikalische Praktika. „Aufgrund der hohen Teilnehmerzahl in diesen Veranstaltungen gab es hier großen Bedarf, ergänzende Angebote zu schaffen“, erklärt Tobias Gutzler. Deshalb hat das Team die Bildschirmexperimente zunächst speziell für diesen Bereich des physikalischen Praktikums entwickelt – aufbauend auf den Grundlagen, die der promovierte Physiker Jürgen Kirstein von der Freien Universität vor rund 15 Jahren geschaffen hat. Zwischenzeitlich hat sich in diesem Bereich Einiges getan.

Mehrere Tausend Fotos für ein interaktives Bildschirmexperiment

„Die interaktiven Bildschirmexperimente machen reale Situationen auch digital erfahrbar“, sagt Nordmeier. Zunächst werden dafür Fotos eines Versuchsaufbaus aufgenommen – und zwar in jedem möglichen Zustand. Beispielsweise müssen Stecker in mehreren hundert Kombinationen in ein Messgerät gesteckt werden, um einen flüssigen Ablauf der Bildschirmanwendung zu garantieren. „Je nach Experiment können es auch an die tausend Fotos sein“, erklärt der Physikprofessor. Wichtig sei dabei, dass jeweils nur ein Element des Aufbaus verändert wird und die Kameraeinstellung stets dieselbe bleibt. Am Computer werden diese Bilder dann zusammengefügt und mit der entsprechenden Software programmiert, damit sie bildschirmfähig werden. Die fertige Anwendung lässt sich schließlich interaktiv bedienen – entweder am herkömmlichen Computerbildschirm oder über mobile Endgeräte wie Tablets oder Smartphones.

Über Touchpads kann ein beinahe authentisches haptisches Erleben nachempfunden werden: In einem realen Experiment verändert sich etwa die Ausrichtung von Eisenspänen auf einem Magnetfeld durch Klopfen auf die Unterlage. Am Bildschirm funktioniert dies nun genauso. Bei anderen Experimenten lassen sich Regler drehen, Flüssigkeiten in Gefäße füllen und Messungen mit realen Messergebnissen durchführen. Mittlerweile hat das Team um Volkhard Nordmeier schon mehr als 300 Experimente digital aufbereitet – das Ergebnis jahrelanger Arbeit.

Über die Realität hinausgehen

Die Bildschirmexperimente sind jedoch nicht als Alternative, sondern als Ergänzung zum Praktikum im wahren Leben gedacht. „Durch Bildschirmexperimente lernen die Studierenden die Geräte und den Versuchsaufbau vorab kennen oder können den Aufbau nach dem wirklichen Experiment in einer anderen Lernumgebung wiederholen, was den Lernerfolg steigert “, sagt Volkhard Nordmeier. Allerdings würde nur ein Teil der Realität abgebildet – bei „echten“ Experimenten können Geräte beispielsweise herunterfallen oder auch defekt sein. Andererseits können digitale Darstellungen sogar mehr bieten als die reale Versuchssituation und zum schnellen Verstehen führen: „Wir können zum Beispiel verschiedene Visualisierungsebenen einblenden, im Falle des Magnetfeld-Experiments etwa Magnetfeldlinien“, sagt Gutzler.

Realistische Umsetzung inklusive

Das Projekt ist deutschlandweit bisher einzigartig. „Früher wurden solche Darstellungen aufwendig animiert“, sagt Nordmeier. Aber das sei sehr zeitintensiv und kostspielig. Zudem sei der enge Bezug zur Realität für den erfolgreichen Einsatz der interaktiven Bilderschirmexperimente sehr wichtig. „Wir virtualisieren die Realität, und zwar mit all ihren Macken und Schönheiten.“ 

Die Reaktionen auf das Angebot sind durchweg positiv – bei Praktikumsleitern und Studierenden. Auch die praktische und finanzielle Umsetzung stelle kein Problem dar. Zwar stehen den Physikern derzeit nur 16 Endgeräte zur Verfügung, doch viele Studierende besäßen mittlerweile ein eigenes Tablet, sagt Volkhard Nordmeier. „Die Prognose besagt, dass bis in zwei Jahren jeder Studierende mindestens ein multimediales Gerät besitzt.“ Nach einer ausführlichen Testphase stehe einem regulären Einsatz der multimedialen Anwendungen im Rahmen der Praktika vom Sommersemester 2014 an damit nichts im Wege.