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„Das einzige Land, das jemals die Atombombe erlebt hat“

Japanologin Stefanie Schäfer über die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945, die die japanische Politik und Gesellschaft bis heute prägen

24.07.2015

Der Atompilz über der japanischen Stadt Nagasaki am 9. August 1945 von einem Außenbezirk aus gesehen.

Der Atompilz über der japanischen Stadt Nagasaki am 9. August 1945 von einem Außenbezirk aus gesehen.
Bildquelle: Madsuda Hiromichi / Wikimedia Commons

Die erste Atombombe wurde am 6. August 1945 über Hiroshima abgeworfen.

Die erste Atombombe wurde am 6. August 1945 über Hiroshima abgeworfen.
Bildquelle: Enola Gay Tail Gunner S/Sgt. George R. (Bob) Caron / Wikimedia Commons

Stefanie Schäfer promoviert an der Freien Universität Berlin über Hiroshima als Gedenkort.

Stefanie Schäfer promoviert an der Freien Universität Berlin über Hiroshima als Gedenkort.
Bildquelle: Annika Middeldorf

Während in diesem Jahr in Deutschland und anderen europäischen Ländern am 8. Mai der Befreiung Europas von den Nationalsozialisten durch Ausstellungen und Veranstaltungen gedacht worden ist, steht die Erinnerung an das Ende des Zweiten Weltkriegs in Japan noch bevor: Am 6. und 9. August 2015 jähren sich die Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki zum 70. Mal. In Japan wird dies der Höhepunkt des politischen Gedenkjahres sein. Erinnert wird an nach vorsichtigen Schätzungen mindestens 130.000 Menschen, die durch die Bomben getötet wurden, und an unzählige weitere, die in den darauffolgenden Jahrzehnten durch Folgeerkrankungen starben. Ein Gespräch mit der Japanologin Stefanie Schäfer von der Freien Universität über das Gedenken in der japanischen Nachkriegsgesellschaft.

Frau Schäfer, die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki waren die Ziele der ersten Atombombenabwürfe. Welche Rolle spielt die Erinnerung daran in der heutigen japanischen Gesellschaft und Politik?

Die Atombombenabwürfe sind im nationalen Gedenken verankert. Der 6. August wird auch in diesem Jahr ein wichtiger Gedenktag sein, wichtiger als die bedingungslose Kapitulation Japans am 15. August 1945, dem Ende des Zweiten Weltkriegs auch im Pazifikraum. Hiroshima ist ein nationaler Erinnerungsort, die Erinnerungsstätte wird von Politikern und Würdenträgern besucht, aber auch von Schülern, die dorthin Klassenfahrten unternehmen.

Wie war das unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg?

Japan stand bis 1952 unter amerikanischer Besatzung. Nicht zuletzt wegen der damals verhängten Zensur gab es zunächst keine öffentliche Diskussion über Atombomben. Wenn darüber während der Besatzungszeit gesprochen wurde, dann mit dem Tenor, dass ihr Einsatz gegen die japanische Zivilbevölkerung notwendig und gerechtfertigt gewesen sei, um den Zweiten Weltkrieg zu beenden. Hinzu kam das Leid der Bevölkerung. Viele Städte waren auch durch konventionelle Bomben zerstört worden, da stand der Wiederaufbau im Vordergrund.

Erst nach dem Ende der Besatzungszeit kamen Filme in die Kinos, und es erschienen Bücher, die das durch die Bomben verursachte Leid anprangerten. Ein Schlüsselmoment war jedoch ein Ereignis im Jahr 1954: Ein japanisches Fischerboot war in den Ausfallregen eines amerikanischen Atomwaffentests vor dem Bikini-Atoll geraten. Mannschaft und Fracht wurden verstrahlt; ein Crew-Mitglied starb. Das brachte nicht nur ohnehin politisierte Gruppen wie Studenten oder linke Oppositionsanhänger auf die Straße: Als auf dem Tokioter Fischmarkt verstrahlter Fisch gefunden wurde, waren auch Mütter alarmiert, die sich Sorgen um die Gesundheit ihrer Kinder machten. Es entstand die wahrscheinlich größte zivilgesellschaftliche Bewegung in der japanischen Geschichte. Ihr Ziel war der Kampf gegen Atomwaffen weltweit. Die unterschiedlichen Gruppen verband der Antrieb, als einziges Land, das jemals die Atombombe erlebt hatte, prädestiniert zu sein, die Welt vor ihrer drohenden atomaren Vernichtung zu warnen. Aus der Niederlage war eine überwältigende moralische Mission geworden.

Mit Folgen für die japanische Politik?

Japan sprach sich öffentlich explizit gegen Atomwaffen aus. In den 1960er Jahren gerieten die Amerikaner in den Verdacht, auf ihren Militärstützpunkten in Japan Atomwaffen zu stationieren. Als es zu Protesten kam, erklärte der damalige japanische Premier Satō Eisaku, Japan werde nicht nur niemals Atomwaffen herstellen und besitzen, sondern auch niemals im Land stationieren. Diese sogenannten drei nicht-nuklearen Prinzipien sind zu einem Grundpfeiler der japanischen Außen- und Sicherheitspolitik geworden. Satō erhielt dafür 1974 den Friedensnobelpreis; die Auszeichnung war auch eine Würdigung des neuen japanischen Selbstverständnisses.

Gilt diese ablehnende Haltung gegenüber Atomwaffen bis heute?

Ja, zwar haben vor allem konservative Politiker immer wieder mit dem Gedanken gespielt, atomar aufzurüsten, aber der öffentliche Druck ist zu groß. Es gibt Stimmen, die besagen, Japans starkes Engagement in der zivilen Nutzung der Kernenergie sei Teil des nuklearen „hedging“, einer Absicherung für die militärische Nutzung. Japan hält sich so die Option offen, atomwaffenfähiges Uran anreichern zu können.

Der GAU im Atomkraftwerk Fukushima im März 2013 zeigte, wie gefährlich auch die zivile Nutzung ist…

Die Themen werden von offizieller Seite dennoch in Japan getrennt verhandelt. Atomwaffen werden öffentlich klar abgelehnt; bei der zivilen Nutzung hingegen sieht man nicht die Technologie selbst als das Problem, sondern mangelnde Kontrollen, institutionelle Versäumnisse und fehlende Modernisierungen.

In Ihrer Doktorarbeit haben Sie sich mit Hiroshima als Gedenkort befasst. Wie hat sich dieser Ort in den vergangenen 70 Jahren verändert?

Bis heute überwiegt dort wie in Japan allgemein die Opferperspektive. Man erinnerte an das Leid der Zivilbevölkerung – anders als in Deutschland, wo auch an die deutschen Täter erinnert und deren Schuld gedacht wird. Doch in den vergangenen Jahrzehnten hat sich auch einiges verändert. Japans Rolle im Pazifik-Krieg, die japanische Invasion auf dem Festland haben sich einen Platz im Atombombengedenken erkämpft, wenn auch einen marginalen. Im Museum in Hiroshima findet man beispielsweise inzwischen auch Informationen über Hiroshimas Vergangenheit als Militärstadt. Grund dafür war das Erstarken der anderen asiatischen Länder, und als 1994 in Hiroshima die panasiatischen Spiele stattfanden, wurde die Dauerausstellung umgestaltet, um die Gefühle der anreisenden Besucher und Sportler nicht zu verletzen. Am 6. August wird aber immer noch nicht offiziell der vielen chinesischen und koreanischen Zwangsarbeiter gedacht, die ebenfalls bei den Atombombenabwürfen ums Leben kamen.

Stefanie Schäfer hat bei Verena Blechinger-Talcott, Professorin für Japanologie an der Freien Universität Berlin, über Hiroshima als Gedenkort promoviert. Inzwischen ist sie bei der Graduate School of East Asian Studies für Publikationen und Veranstaltungen zuständig.

Die Fragen stellte Nina Diezemann