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„Man muss Distanz halten und kritisch bleiben“

Der französische Zeithistoriker und Holocaust-Experte Henry Rousso spricht am 3. Juli an der Freien Universität

01.07.2013

Schreibt als Zeitgenosse über Zeitgeschichte: der französische Historiker Henry Rousso hält am 3. Juli um 18.15 Uhr einen Vortrag an der Freien Universität.

Schreibt als Zeitgenosse über Zeitgeschichte: der französische Historiker Henry Rousso hält am 3. Juli um 18.15 Uhr einen Vortrag an der Freien Universität.
Bildquelle: John-Foley

Vor welchen Problemen steht ein Historiker, der über Zeitgeschichte schreibt? Kann er objektiv sein, wenn er sich aktuellen, gesellschaftlich brisanten Themen widmet? Welche soziale, politische und moralische Verantwortung hat die zeitgenössische Geschichtsschreibung? Diese und andere Fragen wird der französische Historiker Henry Rousso in seiner Dahlem Humanities Center Lecture am 3. Juli an der Freien Universität Berlin behandeln. Sein Vortrag trägt den Titel „Die ‚jüngste Katastrophe: Zur Praxis der Zeitgeschichte“. Ein Gespräch mit dem Holocaust-Experten, der bedeutende Studien zu Frankreichs Rolle im Zweiten Weltkrieg und zum Erbe des Vichy-Regimes veröffentlicht hat.
Herr Professor Rousso, worum wird es in Ihrem Vortrag am 3. Juli an der Freien Universität gehen?

Der Vortrag soll sich auf ein Buch stützen, das ich im vergangenen November in Frankreich veröffentlicht habe. Es heißt: „Die jüngste Katastrophe“. Es geht um die Praxis der Zeitgeschichte und die theoretischen Grundlagen der Historiografie. Ich spreche als Zeithistoriker und weiß aus eigener Erfahrung, auf welche Probleme man stößt, wenn man über Zeitgeschichte schreibt. Um das zu verstehen, muss man auf die Ursprünge der Geschichtsschreibung zurückgehen und analysieren, wie diese Probleme in den vergangenen Epochen betrachtet und behandelt wurden. Ich untersuche also, wie sich die Perspektive auf die Gegenwart und das Schreiben darüber im Laufe der Zeit verändert hat.

Wenn ein Zeithistoriker über aktuelle Phänomene schreibt, beobachtet er nicht nur, sondern engagiert sich auch. Geht es Ihnen um dieses Spannungsverhältnis zwischen Objektivität und Engagement?

Die Hauptfrage lautet: Unterscheidet sich Zeitgeschichte von anderen Formen der Geschichtsschreibung? Meine Antwort ist: ja. Wenn ein Zeithistoriker sich auf ein sehr sensibles Themenfeld konzentriert – und mich interessieren vor allem der Holocaust und der Zweite Weltkrieg – dann ist er zugleich sozialer Akteur innerhalb eines sozialen Feldes. Zeitgeschichte ist also eine Art der Geschichtsschreibung, die gleichzeitig  Gegenstand einer öffentlichen Debatte ist. Zeitgeschichte ist nicht nur für Akademiker interessant, sondern betrifft und erregt auch die Öffentlichkeit. Das ist der große Unterschied zu anderen Formen der Geschichtsschreibung.

Hat der Zeithistoriker eine moralische Verantwortung? Kann und soll er einen Gegen-Beitrag zum Mainstream-Diskurs produzieren? Das wäre Foucaults Vorstellung von der Rolle eines Intellektuellen.

Ich möchte mich nicht mit Foucault vergleichen (lacht). Aber ja. Auch ich bin durch die gesellschaftlichen Konflikte meiner Generation geprägt, auch ich wollte eine Art „andere Geschichte" schreiben. Vor allem mein erstes Buch „Das Vichy-Syndrom“ ist so etwas wie eine Gegen-Geschichte zur Mainstream-Haltung der damaligen Politik. Zugleich sehe ich, dass die Position eines Zeithistorikers sehr schwierig ist. Auf der einen Seite muss ein Intellektueller engagiert sein und sich in die öffentliche Debatte einmischen, auf der anderen Seite muss er kritisch bleiben und eine Distanz aufbauen gegenüber den Akteuren, die ihn umgeben – selbst zu jenen, die für eine ähnliche Sache kämpfen. Es ist wichtig, auf beiden Seiten zu kämpfen: auf der Seite der Geschichtsschreibung und auf der Seite der Öffentlichkeit. Es geht aber nicht darum, beide Seiten gegeneinander auszuspielen, sondern kritisch zu bleiben und Gerechtigkeit walten zu lassen.

Vermutlich spielen Sie vor allem auf Ihre Erfahrungen an, die Sie während ihrer Forschung zum Vichy-Regime und dessen Rezeption im Frankreich der Nachkriegszeit gemacht haben. Hat sich in den vergangenen Jahren etwas verändert? Wie ist Frankreichs Perspektive auf seine „dunkle Vergangenheit“ heute?

Es hat sich viel getan! Seit dem Ende der 1990er Jahre hat Frankreich viele Fortschritte gemacht. Es beteiligt sich ähnlich wie Deutschland an Reparationszahlungen. Frankreich erkennt die Leiden der Opfer an. Die Einstellung hat sich komplett geändert. Das hat auch mit der Politik von Chirac zu tun, der das Vichy-Regime als Produkt der französischen Republik anerkannt hat. Eine solche Perspektive wäre nach dem Krieg unmöglich gewesen. De Gaulle sagte noch, dass das Vichy-Regime nichts mit der französischen Republik zu tun hat! Diese positive Veränderung, die sich bis heute fortsetzt, verdanken wir Politikern, Aktivisten... nun ja – und einigen engagierten Zeithistorikern (lacht).

Die Fragen stellte Leonard Fischl

Weitere Informationen

„Die ‚jüngste Katastrophe‘: Zur Praxis der Zeitgeschichte“

Vortrag in französischer Sprache mit Simultanübersetzung ins Deutsche.

Zeit und Ort

  • 3. Juli 2013, 18.15 Uhr
  • Freie Universität Berlin, Raum KL 32/123, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin-Dahlem (U-Bhf. Thielplatz, U 3)

Um Anmeldung an admin@dhc.fu-berlin.de wird gebeten.

Im Internet finden Sie weitere Informationen.

Der Vortrag ist eine Kooperationsveranstaltung des Dahlem Humanities Center, des Frankreich-Zentrums der Freien Universität Berlin und des Centre Marc Bloch.