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Rede von Dieter Lenzen anläßlich der Immatrikulationsfeier im Wintersemester 2003/04, FU Berlin


Prof. Dr. Dieter Lenzen, Präsident der Freien Universität Berlin

Rede anlässlich der Immatrikulationsfeier im Wintersemester 2003/04 zur Begrüßung der neuimmatrikulierten Studierenden am 22. Oktober 2003

Liebe Neuimmatrikulierte, liebe Eltern, Großeltern, Verwandte und Freunde unserer Erstsemester, liebe Gäste und ­ natürlich ­ lieber Peter Ustinov!

Herzlich willkommen an der Freien Universität Berlin!

Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herzlich willkommen im Wintersemester 2003/2004!

Sie, liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen, haben eine gute Entscheidung getroffen, als Sie sich um einen Studienplatz bei uns bewarben, und Sie haben Glück gehabt, dass Sie zu den Ausgewählten gehören. Dieses gilt nur für jeden 5., denn rund 20.000 Abiturientinnen und Abiturienten bewarben sich um einen Studienplatz an dieser Universität. Nur knapp 5000 konnten wir aufnehmen, weil unsere Kapazitäten immer enger werden. Dabei fahren wir schon fast eine doppelte Überlast. Rund 41.000 Studierende sind bei uns immatrikuliert. Die Zahl der Studienplätze beträgt aber nur rund 22.000. Das bedeutet, es wird mancherorts eng werden. Auch wenn nicht alle Immatrikulierten in den Veranstaltungen erscheinen, so ist es doch vollkommen klar: Es gibt Fächer, in denen die Studiennachfrage sehr hoch ist, z. B. in den Fächern Publizistik, Rechtswissenschaft, Politikwissenschaft; Grundschulpädagogik oder Psychologie.

Gleichwohl die Freie Universität wäre nicht die Freie Universität, sie wäre nicht diejenige mit den höchsten Bewerberzahlen in Deutschland, sie wäre in Berlin nicht diejenige mit den besten Leistungsziffern, wenn sie es nicht verstanden hätte, im Sinne der Intensionen ihrer Gründer und Gründerinnen immer wieder das Unmögliche möglich zu machen, sich zu behaupten, sich durchzukämpfen und dabei glänzende Resultate zu erzielen. Natürlich bietet sich diese Stunde dazu an, darüber zu berichten. Ich möchte Sie aber nicht mit Leistungsziffern langweilen, deren Bedeutung Sie heute noch nicht einschätzen können. Deshalb nur kurz dieses, was Sie als Lernende besonders betrifft:

Die Freie Universität hat unter den fast 80 Universitäten Deutschlands den 1. Platz bei der Einwerbung der Alexander-von-Humboldt-Stipendiaten inne. Wir verfügen über insgesamt 10 Sonderforschungsbereiche (+ 7 Beteiligungen), deren Sprecher wir sind. Dieses sind große Forschungszusammenschlüsse, die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert werden und ­ das tangiert Sie sehr wohl ­ Garanten für akademische Ehre auf höchstem Niveau sind. Denn dort, wo nicht geforscht wird, mag zwar kompetent über Wissenschaft gesprochen werden, Wissenschaft gemacht wird dort nicht.

Ich habe die Alexander-von-Humboldt-Stipendiaten nicht zufällig erwähnt. Sie sind Ausdruck eines Elements dieser Universität, das mit ihrer Gründung unmittelbar verknüpft ist, des Elements der Internationalität. So hat die Freie Universität im Vergleich zu anderen die größte Zahl der ausländischen Studierenden, worüber wir uns besonders freuen. Ich begrüße sie deshalb auf das Herzlichste.

Die Gründungsgeschichte dieser Universität ist mit dem entschiedenen Willen der Vereinigten Staaten von Amerika aufs Engste verbunden, in Zeiten der kommunistischen Diktatur ein freies Berlin zu halten und ihm ein intellektuelles Zentrum zu geben, diese Universität. Sie befinden sich in einem Gebäude, das mit Mitteln der Henry-Ford-Foundation errichtet wurde und im nächsten Jahr auf 50 Jahre seiner Existenz zurückblicken kann. Vor nun mehr fast 40 Jahren hielt im Innenhof dieses Hauses J. F. Kennedy seine legendäre Rede, kurz nach dem Mauerbau, in der er auf das Siegel dieser Universität und die darin enthaltenen drei Leitbegriffe einging. Freiheit, Gerechtigkeit und Wahrheit.

Ich möchte Ihnen vorlesen, was Kennedy zum Leitbegriff der Wahrheit damals sagte:

"First, what does truth require? It requires us to face the facts as they are, not to involve ourselves in self-deception; to refuse to think nearly in slogans. If we are to work for the future of the city, let us deal with the realities as they actually are, not as they might have been, and not as we wish they were."

Ich glaube, dass diese Aufforderung, mit den Gegebenheiten fertig zu werden, wie sie sind und nicht so, wie sein könnten oder wie wir sie uns gewünscht hätten, dass diese Aufforderung, für die Zukunft dieser Stadt zu arbeiten, so aktuell ist, wie nie zuvor.

Entgegen dem Anschein, den diese Stadt in ihren neu entstehenden Gebäuden und in ihrem pulsenden Verkehr besonders für diejenigen hinterlässt, die zum ersten Mal hier sind, befindet sich unser Gemeinwesen in einer schwierigen Lage. Heute ist es nicht die Freiheit, die aus kommunistischen Gewehrläufen bedroht wird, sondern die ökonomische Basis dieser Stadt, die sie verloren hat, weil Freiheit missbraucht wurde. Wenn die Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches auf eine Kommune zutreffen, müsste man sie als insolvent bezeichnen. In dieser Lage versucht eine Regierung zwangsläufig das zu tun, was sie tun muss, und was sie als sparen bezeichnet. Jeder Eigentümer eines Sparbuches weiß indessen, dass der Sparer am Ende des Sparprozesses mehr Geld besitzt und nicht weniger. Reden wir also von Kürzungen. Den Wissenschaften in Berlin waren Kürzungen zwischen 200 und 600 Millionen Euro jährlich angedroht worden, und dieses bei einem Gesamtetat von nicht viel mehr als über 900 Millionen. Die drei Universitätspräsidenten haben in mühsamen Verhandlungen zuletzt mit dem Regierenden Bürgermeister die Kürzungen auf 75 Millionen eindämmen können. Was jetzt bevorsteht, ist die Lösung der Frage, welche Hochschule welche Einschnitte hinnehmen muss. Die Freie Universität als eine Einrichtung, in der das Wort Solidarität eine lebenserhaltende Bedeutung besaß und besitzt, fordert deshalb, dass diese Kürzungen linear, entsprechend dem jeweiligen Anteil der Hochschulen am Gesamthaushalt für die Berliner Wissenschaften, erfolgen. Ebenso wenig wie die Freie Universität seit der Wende eine Sonderrolle aufgrund Ihrer historischen Leistungen verlangt hat, kann es einen Artenschutz für andere Einrichtungen geben. Ich erwarte des Weiteren, dass das Parlament und die Regierung den Universitäten das Maß an Autonomie im neuen Hochschulgesetz gewähren, welches die Voraussetzung für die Umsetzung solcher gewaltigen Kürzungen ist, davon ist die Freie Universität nach der Wende in besonderer Weise getroffen worden. Unser Budget ist praktisch halbiert, Zahl der Professuren seit 1990 von etwa 1000 auf unter 500 abgesunken, die Kürzung um weitere 80 ­ 100 Professuren steht uns bevor.

Kein Unternehmen würde es akzeptieren, wenn der Staat ihm vorschreiben würde, welches Personal es einstellen möchte, von welchen Produktionsbereichen es sich verabschieden soll und mit welchen Dienstleistungen und Produkten es sich marktfähig machen möchte. Gewiss ­ für viele von uns, die Wissenschaft noch anders erlebt haben, ist die Analogie zwischen Universität und Unternehmen gewöhnungsbedürftig. Gleichwohl: Der Globalisierungsprozess, ja bereits die Europäisierung des Hochschulraumes erzeugt einen Wettbewerbsdruck, in dem ein Betrieb mit einem Umsatzvolumen von über 300 Mio. Euro mit unternehmerischen Mitteln gesteuert werden muss. Aber: Es ist ein Unternehmen Wissen und kein Unternehmen Coca-Cola. Das bedeutet, wir müssen darauf bestehen, dass die besonderen Reproduktionsbedingungen von Wissenschaft Berücksichtigung finden.

Was bedeutet das? Wissenschaft, Wissenschaft an der Freien Universität, bringt, so lesen wir in unserem Siegel, Wahrheit hervor ­ Veritas ­ und veröffentlicht diese Wahrheit. Spätestens seit dem "Empirical turn" der Wissenschaften in den letzten 30 Jahren haben wir diesen Begriff differenzieren müssen. Etwas ist nicht schon eine Wahrheit deshalb, weil ein Hochschullehrer sie ausgesprochen hat, oder weil sie irgendwo gedruckt wurde. Der systematische Zweifel, die Skepsis ist ein Bestandteil dieser Wahrheit selbst und ­ liebe Neustudierende, Internettrainierte: Das Internet verfügt über etwas nicht, für das Universitäten gerade stehen: Nämlich eine Qualitätskontrolle über das dort bereit gehaltene Wissen. Eine wissenschaftliche Tatsache ist das Produkt methodisch kontrollierter Untersuchungen und theoretisch basierter Reflexion. Deshalb hüten Sie sich davor, für die Abfassung Ihrer ersten Referate aus dem Internet Textbausteine "zu downloaden". Sie wissen nicht nur nicht, ob es stimmt, was Sie dort lesen, Sie machen sich, so Sie nicht explizit zitieren, des Betrugs schuldig. Wir wollen Ihre Leistungen sehen, nicht die eines Hackers oder eines entfernten Servers in Ostasien. Das gilt, mutatis mutandis, natürlich auch für die Beschäftigten im Wissenschaftsbetrieb. So wie inzwischen Firmen ihre Dienste anbieten, mit deren Hilfe Kopien aus dem Internet identifiziert werden können, ist es notwendig geworden, Richtlinien für die Sicherung guter Wissenschaft zu erlassen, weil in einigen Fällen - nicht in dieser Universität - Forschungsresultate gefälscht wurden. Wenn dieses, wie geschehen, in der Krebsforschung der Fall ist, dann wird der ganze Zynismus eines Wissenschaftsbetriebes sichtbar, der sich nicht die für Wahrheit als solche, sondern für die Berichterstattung über vermeintliche Wahrheiten interessiert. Wie hieß doch der Satz Kennedys über das, was Wahrheit erfordert ­ "it requires us to face the facts as they are, not involve ourselves in self ­deception."

Wir werden als Universität diese Maxime berücksichtigen, wenn wir uns nun daran machen müssen, uns von einzelnen Professuren, von Fachrichtungen, vielleicht sogar von ganzen Fächern zu verabschieden. Dabei werden zwei Kriterien eine zentrale Rolle spielen: Die Leistungsfähigkeit eines Bereichs und seine Zukunftsfähigkeit.

Was heißt das? Niemand wird erwarten, dass eine Universität sich von den Fächern oder Professuren trennt, die in der Hervorbringung von Wissen besonders erfolgreich gewesen sind. Das sind Fächer mit Sonderforschungsbereichen, mit Graduiertenkollegs, mit Forschergruppen, Professuren, die bei der Einwerbung von Drittmitteln erfolgreich waren, Preisträgerinnen und Preisträger, Bereiche, deren Öffentlichkeits- wirksamkeit für uns wichtig ist, also das, was man als Public Impact bezeichnet. Ebenso bedeutsam ist aber auch die Zukunftsfähigkeit eines Bereiches. Dieses Kriterium ist schwieriger zu operationalisieren. Was jemand geleistet hat ist messbar, was er leisten wird als Vorhersage mit Unsicherheiten versehen. Dennoch gibt es Anhaltspunkte. Das ist zum einen die Frage des gesellschaftlichen Bedarfs. Diese Stadt, die Zukunft dieser Stadt, hat einen Anspruch darauf, dass die Freie Universität Absolventen auf hohem Niveau hervorbringt, die im Berufsleben eine Zukunftschance haben, und die durch ihre berufliche Tätigkeit der Stadt eine Zukunftschance geben. Ebenso haben die Bürger dieser Stadt, die uns bezahlen, einen Anspruch darauf, von uns Forschungsergebnisse zu verlangen, die ihre Lebensbedingungen verbessern. Das können pharmazeutische Produkte im Drug Design sein, das kann bedeuten, dass unsere Veterinäre erfolgreich an der Sicherheit von Nahrungsmitteln arbeiten, das kann aber auch heißen, nein es muss heißen, dass Wissenschaft einer doppelten Logik folgt: Zukunftsfähig ist eine Wissenschaft nicht nur dann, wenn sie empirische Gewissheiten zur Lösung von Problemen liefert, die wir bereits kennen, sondern wenn sie ihr flexibles Potential nutzt, das über den Augenblick hinausgeht, ein reflexives Potential, das Probleme antizipiert, die wir noch nicht sehen, ein reflexives Potential, das Kreativität freisetzt, ein reflexibles Potential, das sich der Geschichte vergewissert und der Grundlagen unserer Kultur, unsere Normen und Werte reflektiert und an neue Gegebenheiten adaptiert, ein reflexives Potential, das in der Geschichte des kontinentalen Bildungsdenkens über zwei Jahrhunderte eine so hervorragende Rolle gespielt hat. Diese beiden, Wahrheit und Gewissheit, diese beiden, zukunftsichernde und zukunftentwerfende Wissenschaften, diese drei, Naturwissenschaften, Sozialwissenschaften und Geisteswissenschaften, sind an der freien Universität für die Aufgaben bestens vorbereitet, weil es für diese Universität immer den Blick nach vorn gegeben hat.

Dahin schauen nun auch Sie, liebe freshmen, wie Sie, egal ob weiblich oder männlich, in den USA genannt werden. Sie können diesen Blick zuversichtlich in die Zukunft richten, und Sie sollten es erwartungsvoll tun. Diese Universität hat Ihnen viele Wahrheiten zu bieten, faszinierende, aber auch anstrengende, aussichtsreiche neue, aber auch alte, vielleicht manchmal langweilige, aber nicht minder wahre. Die Mitglieder dieser Universität werden sich bemühen, Ihnen bei der Wahrheitssuche zu helfen, die Lernbedingungen nach Lage des Möglichen so optimal wie möglich zu gestalten. Das wird nicht immer gelingen. Und vielleicht hat auch noch nicht jeder begriffen, dass diese Stadt, dass diese Universität sich in einer Situation befindet, in der die eigene Tatkraft an die Stelle des lauten Vortrags von Ansprüchen treten muss. Sie dürfen also nicht warten, dass Ihnen alles gewissermaßen hirngerecht serviert wird, sondern Lernen ist eine Aktivität des Lerners und nicht des Lehrers. Orientieren Sie sich, stellen Sie auch vermeintlich dumme Fragen. Fragen Sie, wo Sie helfen können, um den Erfolg dieser Universität unsere gemeinsame Sache sein zu lassen. Fragen Sie Ihre Dozenten, ob sie für den Ablauf des Seminars Hilfe benötigen, fragen Sie in den Bibliotheken, ob ein kleines bisschen Ihrer Arbeitskraft die dortige Lage verbessern kann und, liebe Kolleginnen und Kollegen, vielleicht fragen wir unsere Kollegen, ob wir sie bei der akademischen Selbstverwaltung, bei der Prüfungsüberlast, bei der Durchführung von Massenveranstaltungen solidarisch unterstützen können, wenn wir den Eindruck haben, dass unsere Lasten etwas ungleich verteilt sind.

Es ist klar, meine Damen und Herren, dass man eine solche Aufforderung an dieser Universität nicht enden lassen kann, ohne wenigstens eine Adaptation jenes Satzes von John F. Kennedy, der da heißt: "Frage nicht, was deine Universität für dich tun kann, frage, was du für die Freie Universität tun kannst."