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Rede von Bischof Prof. Dr. Wolfgang Huber Wissenschaft verantworten

„Wissenschaft verantworten“

Rede von Bischof Prof. Dr. Wolfgang Huber anlässlich der feierlichen Immatrikulation zum Wintersemester 2007 /2008 an der Freien Universität Berlin am 24. Oktober 2007

Es gilt das gesprochene Wort

I.

Ein doppelter Glückwunsch ist an diesem Tag auszusprechen. Ihnen, den neu immatrikulierten Studierenden, gratuliere ich herzlich zum Beginn Ihres Studiums. Das ist ein Einschnitt in der persönlichen Biographie, den man erst im Rückblick ganz ermessen kann. Denn dann wird man erst wissen, was das akademische Studium für das eigene Leben gebracht hat. Aktuell spüren Sie diesen Einschnitt an der ungewohnten Umgebung, fremdartigen Studienbedingungen, vielleicht einem neuen Wohnort, der Suche nach einer Unterkunft undsofort. Viele dieser praktischen Fragen haben mit Wissenschaft nichts zu tun. Und doch: Sie befinden sich jetzt am Ort der Wissenschaft. Deren Anspruch ist es, sich mit den wichtigsten Fragen zu beschäftigen, die es gibt. Dass  Sie daran teilnehmen können, ist das Privileg des Lebensabschnitts, der vor Ihnen liegt.

Sie tun das an einer Universität, der gerade eben Exzellenz bestätigt worden ist. Die Freie Universität Berlin verfügt seit dem vergangenen Freitag über das Zertifikat, eine Exzellenzuniversität, eine hervorragende Universität zu sein. Niemand wird es mir verübeln, wenn ich sage: Ich habe diese Auszeichnung für zwei Berliner Universitäten erhofft, nämlich für die Humboldt-Universität genauso wie für die Freie Universität. Unter den Forschungsprojekten, die von dieser Auszeichnung besonders betroffen sind, befinden sich ja auch wichtige Vorhaben, die beide Universitäten miteinander verbinden. Natürlich habe ich eine gleichrangige Auszeichnung der Humboldt-Universität auch deshalb erhofft, weil sie eine Theologische Fakultät hat, der ich selbst als Honorarprofessor verbunden bin. Aber ohne Einschränkung sage ich: Ich freue mich mit der Freien Universität. Dabei hoffe ich, dass diese besondere Auszeichnung Lehre und Studium an dieser Universität genauso beflügelt wie die Forschung und die internationale Vernetzung. Denn die Exzellenz einer Universität kann eigentlich nur eine ungeteilte sein. Sie muss den Studierenden vom ersten Semester an genauso zu Gute kommen wie den Forschenden. Sie muss exzellente Lehre genauso einschließen wie exzellente Forschung. Sie muss auf gute Studienplätze genauso ausgerichtet sein wie auf hervorragende Forschungsmöglichkeiten.

Eine Universität als Ort der Wissenschaft beschäftigt sich mit den wichtigsten Fragen, die es gibt. Und Sie haben die Chance, daran teilzunehmen. Aber was sind die wichtigsten Fragen? Darüber entbrennt immer wieder Streit. Gott, Freiheit, Unsterblichkeit – so haben frühere Zeiten geantwortet. Heute wird man eher antworten: Klimawandel, Integration, Demographie. Auch andere Beispiele für heute brennende Fragen lassen sich nennen. Aber vielleicht gehören solche neuen Antworten mit der alten Antwort sogar zusammen.

Dieser Vermutung will ich mit einigen ganz einfachen, auch durchaus vorläufigen Überlegungen nachgehen. Dabei orientiere ich mich an den drei heute brennenden Stichworten: Klimawandel, Integration, Demographie.

II.

Die Auszeichnung der Freien Universität in der deutschen Exzellenzinitiative war nicht die einzige wichtige Auszeichnung der letzten Tage. Wichtig war auch eine andere Nachricht: Dem früheren amerikanischen Vizepräsidenten Al Gore und dem Klimarat der Vereinten Nationen wurde der Friedensnobelpreis zuerkannt. Ich habe die Liste der Friedensnobelpreise seit 1901 noch einmal durchgesehen. Einen vergleichbaren Vorgang gab es noch nicht. Die Aufmerksamkeit wird auf ein Thema gelenkt, das man bisher mit dem Stichwort „Frieden“ noch nicht in Verbindung gebracht hat. Eine wissenschaftliche Einsicht wird ausgezeichnet; und es wird dazu aufgefordert, aus ihr Konsequenzen zu ziehen.

Diese wissenschaftliche Einsicht lässt sich so beschreiben: Wir erleben einen dramatischen Klimawandel, der unter Umständen zu einer globalen Erwärmung führt, die 2 Grad Celsius überschreitet und dann weitreichende Folgen für das Leben großer Bevölkerungsgruppen hat. Dieser Klimawandel ist mit hoher Wahrscheinlichkeit durch menschliches Handeln mit beeinflusst; deshalb müssen die Menschen sich auch fragen, was sie zu seiner Begrenzung tun können. Die Treibhausgasemissionen, die zu diesen Veränderungen erheblich beitragen, gehen zum weitaus größeren Teil auf das Produktions- und Konsumverhalten der wohlhabenden Industrienationen zurück; aber die möglichen Folgen werden in überproportionalem Umfang Regionen in der Dritten Welt betreffen, beispielsweise die Deltaregionen, die bei einer denkbaren Überflutung unbewohnbar werden.

Al Gore und das Internationale Expertengremium zum Klimawandel, der sogenannte UN-Klimarat, haben auf diese Zusammenhänge nachdrücklich hingewiesen. Sie haben nach bestem Wissen und Gewissen die Informationen zusammengetragen, die uns bisher zu diesem Thema zur Verfügung stehen. Wissenschaftliche Einsichten stehen immer unter dem Vorbehalt besserer Belehrung. Aber der geschilderte Zusammenhang hat eine hohe Wahrscheinlichkeit für sich. Die Frage schließt sich an: Was kann geschehen, um die absehbaren Folgen zu begrenzen? Wie müssen Energieproduktion, Wirtschaftsweise, Konsumverhalten sich verändern? Was ist nötig, wenn die CO 2- Emissionen Deutschlands und anderer Industrieländer, wie Angela Merkel dieser Tage gefordert hat, bis 2050 auf ein Zehntel des jetzigen Umfangs reduziert werden sollen – und haben wir eigentlich bis 2050 Zeit?

Jeden von uns muss diese Frage unmittelbar, ja existentiell betreffen. Jeder, der ein akademisches Studium beginnt und dieses Studium durchläuft, entwickelt zu solch einer Frage aber auch ein spezifisches, durch sein Fach geprägtes Verhältnis. Mich als Theologen und Bischof beschäftigt unter anderem die Frage, was diese Entwicklung für das Verhältnis zu unserer Welt als Schöpfung bedeutet. Ich stelle die Frage nicht in dem Sinn der sogenannten Kreationisten, die eine wörtliche Interpretation der biblischen Schöpfungsberichte zu einer Art Wissenschaftsersatz machen wollen. Nein, ich bin davon überzeugt, dass auch jemand, der – wie ich – den Wahrheitsgehalt der biologischen Evolutionstheorie zu schätzen weiß, trotzdem einen Zugang dazu haben kann, dass wir die Welt, in der wir leben, dankbar als Schöpfung verstehen können und deshalb in ihrer Bewahrung eine wichtige Aufgabe sehen. Zu den uns vorgegeben Strukturen dieser Schöpfung gehört, wie eine wichtige Stelle des Alten Testaments hervorhebt, dass nicht aufhören sollen „Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht“. Kann es uns unberührt lassen, wenn dieser Rhythmus unter unserer eigenen Beteiligung ins Wanken gerät? Die Verantwortung vor Gott tritt in den Blick.

Das alles sind keine abstrakten Fragen. In der Lausitz, nicht weit von hier im Süden Berlins, wird diskutiert, in welchem Umfang weiter Braunkohle angebaut und zur Energieproduktion genutzt werden soll. CO 2 fällt dabei in erheblichem Umfang an. Sollen dafür weiter Dörfer umgesiedelt und ihre bisherigen Standorte abgebaggert werden?

Wissenschaft ist der Wahrheit verpflichtet. Man wünscht sich für solche Fragen auch dringend eine Instanz, die nicht auf ein vorher festgelegtes Ergebnis ausgerichtet, sondern an der Wahrheit ausgerichtet ist. Doch jede Wissenschaft hebt ihren Aspekt hervor – die Klimaforschung, die Energietechnologie, die Ökonomie oder die politische Wissenschaft. Die Ergebnisse müssen zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Das geht nicht ohne Werturteile ab. Man braucht dafür ethische Maßstäbe. Die Wahrheitsfrage verbindet sich mit der Frage, was wir verantworten können. Welchen Gebrauch machen wir von unserer Freiheit? Wie verantworten wir das, was wir tun, vor der nächsten Generation? An kaum einem Thema zeigt sich dieser Zusammenhang deutlicher als am Thema des Klimawandels.

III.

Doch andere Fragen sind vergleichbar dringlich. Integration ist gegenwärtig in aller Munde. Die Bundeskanzlerin lädt zu Integrationsgipfeln ein; aus Ausländerbeauftragten werden Integrationsbeauftragte. Allmählich kommt zum Bewusstsein, dass Menschen „mit Migrationshintergrund“, wie der politisch korrekte Ausdruck heißt, in unserem Land nicht auf der Durchreise sind, sondern auf Dauer hier bleiben wollen. Wie gelingt Integration? Was muss die Mehrheitsgesellschaft dafür leisten? Und welche Leistungen müssen diejenigen erbringen, die sich integrieren wollen? Die Frage ist außerordentlich umstritten; mit den Antworten stehen wir noch ganz am Anfang.

In der vergangenen Woche wurde ich in eine Diskussion über den Bau von Moscheen in Deutschland verwickelt. Nach bestem Wissen und Gewissen gab ich eine Antwort, die ich Ihnen gegenüber in ganz einfachen Worten wiederholen möchte. Diese Antwort lautet so: Die Religionsfreiheit, die auch in unserem Grundgesetz  verankert ist, ist ein allgemeines Menschenrecht. Sie gilt natürlich für alle Religionsgemeinschaften. Deshalb bejahe ich das Recht von Muslimen, in Deutschland Moscheen zu bauen, die auch in ihrer Architektur als solche erkennbar sind. Dass muslimische Gebetshäuser aus den Hinterhöfen herauskommen, dient der Integration und fördert den Dialog. Die vielen Diskussionen, die in Berlin, Köln oder Frankfurt um den Bau großer Moscheen entbrannt sind, zeigen aber auch, welche Rückfragen durch solche Bauvorhaben nicht nur bei den Nachbarn in den Stadtvierteln ausgelöst werden. Geht es um Religionsfreiheit oder um Macht im öffentlichen Raum? So wird immer deutlicher gefragt. Muslimische Sprecher sind nach meiner Auffassung gut beraten, solche Rückfragen ernst zu nehmen. Bei den notwendigen politischen Entscheidungen spielt deshalb auch mehr eine Rolle als nur das Bauplanungsrecht.

Die Diskussion über den Bau von Moscheen fiele in Deutschland freilich dann leichter, wenn in Saudi-Arabien christliche Gottesdienste möglich wären oder Christen in der Türkei ebenso frei ihre Religion in neu erbauten Kirchen ausüben dürften. Davon sind wir leider noch weit entfernt. Aber wir dürfen in einem freien Land die Gewährung von Grundrechten natürlich nicht davon abhängig machen, ob sie auch in anderen Ländern gewährt werden.

In einer freiheitlichen Gesellschaft muss auch die Pluralität der Religionen unter dem Gesichtspunkt der Freiheit betrachtet werden. Die Religionsfreiheit ist zu achten, auch von den Religionen selbst. Sie müssen darüber hinaus erkennbar machen, dass ihnen auch die anderen Freiheitsrechte wichtig sind, die gleichen Rechte von Frauen und Männern übrigens eingeschlossen. Öffentlich gut zugängliche Moscheen entsprechen der Religionsfreiheit; und sie können der Integration in unsere Gesellschaft dienen. Deshalb sind sie zu begrüßen. Der Klarheit halber füge ich übrigens ausdrücklich hinzu: Dafür christliche Kirchengebäude in Anspruch zu nehmen, ist der falsche Weg.

In der öffentlichen Diskussion werden aus einer solchen Überlegung am ehesten zwei Sätze überhaupt wahrgenommen: die Frage, ob gegenwärtige Moscheebauvorhaben es außer mit der Religionsfreiheit auch mit Machtansprüchen zu tun haben, und der Hinweis, dass die Umwandlung von Kirchen in Moscheen kein geeigneter Weg ist. Aber es ist dringend nötig, dass es Orte gibt, an denen solche Fragen sorgfältiger und differenzierter, freilich trotzdem mit einem Bezug zu den realen Verhältnissen und Entwicklungen geprüft werden. Die Universität ist ein solcher Ort – für Lehrende wie für Studierende. Ich freue mich in diesem Zusammenhang besonders darüber, dass muslimische Kulturen und ihre Rolle in modernen Gesellschaften in der Freien Universität im Rahmen des Exzellenzwettbewerbs schwerpunktmäßig erforscht werden sollen. Freilich bleibt es mein Wunsch, dass in einem solchen Zusammenhang auch die christliche Theologie ihren angemessenen Ort erhält.

IV.

Schließlich eine Bemerkung zum demographischen Wandel. An  ihm beschäftigt uns üblicherweise vor allem, dass unsere Gesellschaft immer älter wird, dass die Geburtenzahl zurückgeht und dass die junge Generation – also Sie – von diesen Entwicklungen in die Zange genommen wird: Durch eine gute Ausbildung sollen Sie dem drohenden Mangel an Fachkräften entgegenwirken; durch gute wirtschaftliche Leistung sollen Sie die Altersversorgung der vorangehenden Generationen sicher stellen; und dabei sollen Sie auch noch zur richtigen Zeit eine Partnerschaft aufbauen und eine Familie gründen. Zu Recht spricht man davon, auf diese Weise konstruiere man eine rush hour, einen Lebensstau für die junge Generation, in ihr übrigens mit besonders viel Druck für die jungen Frauen.

Man muss an dieser Betrachtungsweise etwas ändern. Keine Gesellschaft hat ein Recht dazu, ihre junge Generation nur unter dem Gesichtspunkt gesellschaftlicher Nützlichkeit zu betrachten. Junge Menschen haben das Recht auf einen eigenen Lebensentwurf. Sie haben einen Anspruch darauf, in ihrer Würde und Freiheit geachtet zu werden. Auch dies gehört zu den Wahrheiten, die zum Beginn eines akademischen Studiums ausgesprochen werden müssen.

Richtig ist freilich auch: Es gehört zum Wesen des Menschen, dass er sich und sein eigenes Leben überschreitet. Der Mensch ist, wie man das mit einem philosophischen Ausdruck nennt, ein selbsttranszendentes Wesen. Er findet den Sinn seines Lebens nicht einfach in sich selbst. Er sucht eine Wahrheit, die größer ist als er selbst. Er sucht nach Gemeinschaft. Er will fortwirken – über die Grenzen des eigenen Lebens hinaus. Uns allen ist die Frage nach Gewicht und Bedeutung des menschlichen Lebens über den eigenen Tod hinaus eingestiftet. Dieses Menschheitsthema verbindet sich auch mit der Verantwortung für das Leben einer nächsten Generation. Aus diesem Grund werden Partnerschaft und Familie wieder zu Schlüsselthemen unseres Verständnisses von Gesellschaft. Ich finde das gut – und dringend nötig. Ich wünsche mir, dass diese Fragen auch in unseren Universitäten eine stärkere Rolle spielen. Zu lang wurden sie unter die weichen Themen gerechnet, die ernsthafter wissenschaftlicher Behandlung nicht würdig seien. Ich glaube, es ist gut, wenn sich das ändert.

V.

Der Wahrheit verpflichtet, Freiheit bejahend, am Menschen orientiert: Das sind für mich Grundpfeiler verantwortlicher Wissenschaft. Das ließe sich auch an anderen Themen verdeutlichen. Oft wird in solchen Zusammenhängen auf die Lebenswissenschaften verwiesen. Sie pochen besonders nachdrücklich auf die Freiheit der Wissenschaft; und sie erschließen neue Möglichkeiten des Heilens und Helfens. Doch neben solche neuen Möglichkeiten tritt auch die Vorstellung von einer Optimierung des Produkts Mensch; damit aber wird die menschliche Person zu einer Sache. Wenn man die Freiheit der Forschung mit der Würde der menschlichen Person vereinbar halten will, braucht man nicht nur Gesetze, sondern mehr noch eine Selbstkontrolle der Wissenschaft. Vor allem anderen aber braucht man einen Dialog der Disziplinen, bei dem die Geistes- und Sozialwissenschaften die ethische Expertise einbringen, die Naturwissenschaften aber die erforderliche Sachkunde.

Besonders wichtig ist mir dies: Wissenschaft selbst ist als ein hohes ethisches Gut, ja als ein Auftrag an den Menschen zu sehen. Aber wer die Wirklichkeit um sich her kritisch betrachtet, muss auch lernen, mit dem eigenen Tun kritisch umzugehen. Das gehört zu den wichtigsten akademischen Erfahrungen, die ich Ihnen wünsche.

An drei aktuellen Themen: dem Klimawandel, der Integration und der Demographie wollte ich Ihnen das Gewicht und die Verantwortung von wissenschaftlichem Studium wie von wissenschaftlicher Forschung deutlich machen. In solchen aktuellen Themen blitzen auch die großen Wahrheitsfragen auf, die Fragen nach Gott, nach der Wahrheit, ja sogar nach der Unsterblichkeit. An der Universität geht es tatsächlich um die wichtigen Fragen.

Schlagwörter

  • Sandra Maischberger, Immatrikulationsfeier, Freie Universität Berlin, FU, feierliche Immatrikulation