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Ein Quadratmeter Stoff als Projektionsfläche - Gesetzliche Kopftuchverbote in Deutschland und anderen europäischen Ländern (2009)

Sabine Berghahn – 2009

Der Streit um das „islamische Kopftuch“ erhitzt seit geraumer Zeit die Gemüter, nicht nur in Deutschland, hier aber durchaus heftig und anhaltend. Das lässt sich auch daran ablesen, dass in acht von 16 deutschen Bundesländern ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen (und zum Teil für weitere öffentliche Beschäftigte) in Gesetzen verankert wurde. Damit gehört die Bundesrepublik zu den wenigen Staaten in Europa, die das Gefährdungspotenzial der weiblichen Kopfbedeckung für so enorm halten, dass sie dafür gesetzliche Verbote einsetzen und die einschlägigen Grund- und Menschenrechte muslimischer Kopftuchträgerinnen auf religiöse Bekenntnisfreiheit und persönliche Gestaltung des eigenen Outfits einschränken. Im Gegensatz zu anderen „prohibitiven“ Staaten wie Frankreich und der Türkei bekennt sich die Bundesrepublik Deutschland kraft ihrer Verfassung zu einem „offenen“, „positiven“ und „umfassenden“ Verständnis von staatlicher Neutralität in religiösen, weltanschaulichen und politischen Fragen. Die Stichworte „Laizität“ bzw. „Laizismus“ und „Republikanismus“ kennzeichnen die französische und die türkische Staatsdoktrin im Umgang mit dem Verhältnis von Staat und Kirche bzw. Religion(en), nicht aber die „herrschende“ deutsche Auffassung. Im Gegensatz zu diesen laizitären Staaten, die in Europa im Übrigen eine Minderheit darstellen, sieht die „offene“ Neutralität des Grundgesetzes durchaus vor, dass die religiösen und weltanschaulichen Inspirationen, Überzeugungen und Bindungen der Bürgerinnen und Bürger in die öffentliche Sphäre eingebracht werden dürfen. Beamte und andere Staatsdiener/innen, somit auch Lehrerinnen und Lehrer an öffentlichen Schulen, durften bislang ihre entsprechenden Überzeugungen und Bekenntnisse kundtun, solange sie ihr öffentliches Amt neutral, moderat und unparteiisch ausübten. Diese Situation hat sich durch das „Kopftuchurteil“ des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 2003 und die dadurch angestoßene Gesetzgebung in der Hälfte der deutschen Bundesländer entscheidend verändert. Nunmehr ist partiell eine Laizität „durch die Hintertür“ eingetreten, die noch dazu auf gesetzlichen Regelungen beruht, die den Vorwurf der Diskriminierung von Individuen aufgrund ihrer Religion, ihres Geschlechts und ihrer ethnischen Herkunft sowie des Islam als Religion auf sich gezogen hat. Die Verteidiger der Kopftuchverbote führen wiederum das Grundrecht und Prinzip der Geschlechtergleichberechtigung als Rechtfertigung an. Hier stellt sich die Frage, welche Seite Recht hat, wie berechtigt die Vorwürfe sind und was Politik und Justiz dazu bewegt hat, einen so konfrontativen Regelungskurs einzuschlagen. In dem Beitrag wird die These vertreten, dass der Kopftuchstreit und die Verbotsgesetze nur im Kontext der erst in jüngerer Zeit akzeptierten Selbstbeschreibung der Nation als „Einwanderungsgesellschaft“ verständlich werden. Das „islamische“ Kopftuch stellt eine Projektionsfläche dar, und die Auseinandersetzungen um Duldung oder Verbot des Kopftuchs für Lehrerinnen handeln in symbolischer Weise die Lebens- und Anerkennungsbedingungen der Migrantinnen und Migranten, der „Fremden“ aus, auch wenn diese im Einzelfall vielleicht deutsche Staatsbürgerinnen sind. Schwerpunkt des Beitrags sind die normativ-juristischen Aspekte der Kopftuchverbotspraxis. Hier wird die Frage aufgeworfen, ob sich der freiheitliche Rechtsstaat nicht in Widerspruch zu eigenen liberalen, pluralistischen und universellen Verfassungsansprüchen setzt und damit individuelle Menschenrechte verletzt. Im ersten Kapitel geht es um die Aspekte, welche die Kopftuchkontroverse im Kontext gesellschaftlicher Debatten – d.h. geschlechter-, migrations- und religionspolitischer Dimensionen – verorten; im zweiten Kapitel werfen wir einen Blick über die deutschen Grenzen hinaus auf andere europäische Staaten und ihre „Kopftuchregime“. Im dritten Kapitel findet sich eine vorwiegend juristische Rekonstruktion der Verlaufsgeschichte des Kopftuchstreits, und das vierte Kapitel stellt (und beantwortet) die Frage, ob die deutsche Gesellschaft durch diese Prozesse einer Konfliktlösung näher gekommen ist oder das Gegenteil zutrifft.

Achtung: 2015 korrigierte der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts die Rechtslage entscheidend, siehe den Beitrag der Autorin von 2020 zum sog. Berliner Neutralitätsgesetz: "Berliner Kopftuchverbot für Lehrerinnen ist diskriminierend! ..."

Titel
Ein Quadratmeter Stoff als Projektionsfläche Gesetzliche Kopftuchverbote in Deutschland und anderen europäischen Ländern
Verfasser
Sabine Berghahn
Datum
2009-06
Art
Text

Über die Autorin

Sabine Berghahn,

Dr. jur., Politikwissenschaftlerin und Juristin.

Juristische Ausbildung in München (bis 1980), rechtswissenschaftliche Promotion an der FU Berlin (1991), politikwissenschaftliche Habilitation (1999), seitdem Privatdozentin am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft (OSI) der Freien Universität Berlin (FB Politik- und Sozialwissen­schaften).

Von 1986 bis 2009 am OSI beschäftigt in verschiedenen (befristeten) Arbeits- oder Beamtenverhältnissen mit etlichen mehrjährigen Unterbrechungen (Vertretungsprofessuren in Bremen und Cottbus, Tätigkeit als Rechtsanwältin in Berlin). Vor 1986: Tätigkeit in unterschied­lichen Projekten in München und Berlin, Lehraufträge an Universitä­ten/Fachhochschulen, Arbeit als Rechtsanwältin und Journalistin. Ab Herbst 2009 Gastprofessorin an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin, 2012/13 Vertretungsprofessorin an der Universität Münster, später erneut Tätigkeit an der HWR Berlin, seit 2014 freiberufliche Tätigkeit als Wissenschaftlerin und ab 2015 als Rechtsanwältin in Berlin.

 

Zur Kopftuchproblematik siehe auch den Sammelband:

Sabine Berghahn/Petra Rostock (Hg.): Der Stoff, aus dem Konflikte sind. Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Bielefeld: Transcript Verlag, Juni 2009.

http://www.transcript-verlag.de/ts959/ts959.ph

 

Kontakt

Sabine Berghahn,

PD Dr. jur., Politikwissenschaftlerin und Juristin.

 

Email: berghahn@zedat.fu-berlin.de

https://www.polsoz.fu-berlin.de/polwiss/forschung/hon-vert-s-prof/transf-diskurs/team/team/berghahn/index.html