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Zwei große Nummern

Stanislaw Kubicki und Helmut Coper waren die ersten beiden Studenten der Freien Universität: Helmut Coper ist gerade 85 Jahre alt geworden, Stanislaw Kubicki wird es im Juli. Gemeinsam erinnern sie sich an die Zeit vor 63 Jahren

19.02.2011

Von Sabrina Wendling

Als sich Stanislaw Karol Kubicki und Helmut Coper im Jahr 1946 kennenlernen, haben sie sich gerade für ein Medizinstudium an der Berliner Universität Unter den Linden eingeschrieben. Zwei Jahre später zählten sie zu den Gründern der Freien Universität Berlin: Stanislaw Karol Kubicki wird Matrikelnummer 1, Helmut Coper Matrikelnummer 2. Kubicki macht bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1991 als Professor für Neurophysiologie Karriere, Coper bis 1994 als Professor für Neuropharmakologie – beide verbringen ihre gesamte berufliche Laufbahn an der Freien Universität. Am 30. Dezember 2010 feierte Helmut Coper seinen 85. Geburtstag – Stanislaw Kubicki wird am 5. Juli 2011 dieses Alter erreichen.

Beide leben im Berliner Süden: Coper seit 50 Jahren in Zehlendorf, Kubicki seit mehr als 80 Jahren in seinem Elternhaus in Britz. Bis heute sind die beiden Männer mit den erstaunlich parallelen Lebensläufen eng miteinander befreundet.

Die beiden Medizinstudenten vereinte von Anfang an ihre kritische Haltung gegenüber politischen Regimen und deren Ideologien: Helmut Coper war von den Nationalsozialisten als Halbjude eingestuft worden und musste von 1944 bis 1945 Zwangsarbeit in einem Lager der Organisation Todt leisten, die Bauarbeiten für das Militär erledigte. Kubicki war von Februar bis August 1946 in russischer Gefangenschaft und danach froh, vergleichsweise schnell wieder nach Hause zu kommen. Denn in der Familie fehlte der Vater. Der Schriftsteller und Maler, der sich der polnischen Widerstandsbewegung angeschlossen hatte, war 1942 von der SS erschossen worden.

Rein äußerlich hatte sich sein Zuhause nicht verändert, das Elternhaus in Britz hatte den Krieg unbeschadet überstanden. Stanislaw Kubicki und Helmut Coper begriffen es als große Chance, als sie nach Kriegsende ihr Studium an der Berliner Universität aufnahmen. Sie ahnten nicht, dass ihnen in Lehrveranstaltungen neben medizinischem Fachwissen die neue sozialistische Ideologie vermittelt werden sollte.

Die politisch aufgeladene Stimmung in Ost- und West-Berlin war aus dem Universitätsalltag bald nicht mehr wegzudenken. Über Stanislaw Kubicki tuschelte man, er sei Mitglied der SED. Kubicki schaffte dieses Gerücht auf seine ganz persönliche, unverblümte Art aus der Welt: „Ich ging kurz vor Beginn der Anatomie-Vorlesung zur Tafel und schrieb darauf: Ich bin nicht in der SED! Danach waren alle ruhig“, sagt er.

Helmut Coper erinnert sich, dass am 1. Mai 1946 an der Fassade der Berliner Universität die sozialistische rote Flagge aufgehängt wurde. Die Studenten protestierten mit einer Unterschriftenliste gegen dieses politische Bekenntnis der Hochschule. Auch Helmut Coper hatte unterschrieben. „Anschließend wurden alle, die diese Liste unterzeichnet hatten, in einen Kellerraum mit vergitterten Fenstern zitiert, wo uns ein Professor eine Standpauke hielt und uns auf den ,rechten Weg‘ zurückbringen wollte“, erinnert sich Coper. Zwar sei nach dieser düsteren Belehrung niemand direkt bestraft worden, jedoch sind Fälle anderer Studenten bekannt, die aufgrund ihrer regimekritischen Haltung verhaftet oder exmatrikuliert wurden.

Die Vorfälle animierten Coper und Kubicki, bei der Gründung einer freien Universität mitzuwirken. Die beiden waren mit dabei, als die Studentenzeitschrift „Colloquium“ ins Leben gerufen wurde. Darin kommentierten sie gemeinsam mit Kommilitonen kritisch das Geschehen an ihrer Universität. Zusammen mit anderen Studenten versammelten sie sich am 23. April 1948 vor dem Hotel Esplanade und jubelten Otto Stolz zu, der öffentlich die Gründung einer freien Universität forderte.

Das Arbeitszimmer von Stanislaw Kubicki diente mehrfach als Treffpunkt für regimekritische Studenten, die sich eine neue Universität frei von politischen Einflüssen wünschten. Es waren vor allem die Medizinstudenten der damaligen Berliner Universität, in deren Reihen sich Widerstand gegen die politisch gefärbte Universitätslehre formierte. „In der Anatomie-Vorlesung zum Beispiel waren alle etwa 600 Vorkliniker auf einen Schlag versammelt – da konnte man sich gut organisieren“, sagt Kubicki.

Immer wieder taucht das Wort „Hoffnung“ auf, wenn Helmut Coper die damalige Situation beschreibt. Es fällt ihm nicht leicht, sich an jedes Detail zu erinnern, aber eines ist ihm wichtig: „Stanislaw Kubicki und ich, wir waren nicht zwei Studenten, die mal schnell eine Universität gegründet haben. Wir waren zwei von vielen Studenten, die gemeinsam mit den Alliierten, der Unterstützung des damaligen West-Berliner Bürgermeisters Ernst Reuter, einer großen Anzahl Berliner Bürger, einiger Abgeordneter, Dozenten und Professoren eine freie Universität gefordert und mit umgesetzt haben.“ Coper wehrt sich dagegen, dass man den Gründungsstudenten einen Heldenstempel für ihr Engagement aufdrückt. Er spricht von einer Aufbruchstimmung, von der er sich habe mitreißen lassen, ebenso wie andere sich mitreißen ließen, vom Gefühl der allgemeinen Zustimmung und der Zuversicht, mit der Neugründung einer Universität das Richtige zu tun.

Die Studenten forderten nicht nur eine freie Universität, sie waren in den Anfangsmonaten auch die Freie Universität. „Ich erinnere mich an eine Studentin, die zu uns kam, mit Rucksack und mit Schreibmaschine, und uns fragte, ob sie helfen könnte“, erzählt Coper noch heute voller Begeisterung. Einige Studenten kümmerten sich um das Außen- und Kulturreferat der Freien Universität, Stanislaw Kubicki war das Immatrikulationsbüro. Vom sogenannten vorbereitenden Ausschuss zur Gründung einer freien Universität erhielt er 1948 die Anordnung, er möge zuerst die Medizinstudenten der Nachnamen A bis K einschreiben. „Ich wollte mich gerade schon als Nr. 1 einschreiben, da kam Helmut Coper zu mir“, erinnert sich Kubicki. Die beiden Freunde wollten sich nicht darüber streiten, wer Matrikelnummer 1 und wer Matrikelnummer 2 sein würde. Also ließ Kubicki den Zufall entscheiden: „Ich warf eine Münze, und die Wahl fiel auf mich“.

Coper wurde 1948 der erste gewählte Vorsitzende des Allgemeinen Studierenden-Ausschusses (AStA). An den provisorischen Anfang der Freien Universität erinnert er sich noch sehr gut: „Wir Studenten halfen alle mit: Wir schleppten selbst Tische und Stühle in die noch leeren späteren Seminarräume, wir bekamen Geld- und Möbelspenden von West-Berliner Bürgern, die die Neugründung befürworteten, und wir standen vor einer Reihe von logistischen Aufgaben“, sagt Coper. „Die meisten medizinischen Vorlesungen und Seminare fanden im Krankenhaus Westend statt, aber unsere Dermatologie-Vorlesung war in Neukölln – also organisierten wir uns eine ,eigene‘ Straßenbahn, die von Westend nach Neukölln fuhr.“ Für die Vorlesungen zur Bonhoeffer-Nervenklinik in Reinickendorf konnten sich die Studenten einen Omnibus leihen.

Helmut Coper und Stanislaw Kubicki interessierten sich für die Neurologie. Sie promovierten und habilitierten sich beide auf diesem Gebiet, wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Helmut Coper wurde 1967 Direktor des deutschlandweit ersten Instituts für Neuropharmakologie an der Freien Universität. Zunächst war Suchtforschung sein Schwerpunkt, später beschäftigte er sich auch mit Fragen der Wirkungen von Arzneistoffen im Alter. Für seine Verdienste um die Aussöhnung zwischen Deutschland und Polen wurde Helmut Coper von der polnischen Akademie der Wissenschaften geehrt.

Stanislaw Kubicki widmete sich als Professor für Neurologie der Schlafforschung. Er leitete von 1974 bis 1991 die Abteilung für Klinische Neurophysiologie im Klinikum Charlottenburg der Freien Universität. Daraus hat er gelernt, wie wichtig es ist, dem eigenen Schlafbedürfnis zu folgen. „Ich benötige exakt sieben Stunden und 15 Minuten Schlaf“, sagt Kubicki. Die gönnt er sich auch heute – aber seit seiner Emeritierung gibt er dem Weckerklingeln nicht mehr immer nach. Wenn Kubicki an seinen 85. Geburtstag denkt, zuckt er nur mit den Schultern: „Ich komme aus einer Langlebefamilie“, sagt er, „alle Frauen in der Familie wurden über 90 – und ich folge genetisch meiner Mutter.“ Vor zwei Jahren hat er noch einmal geheiratet, seine Jugendliebe Petra. Sie hätte auch nichts dagegen, wenn ihr Mann neue Maßstäbe setzt in der Langlebefamilie – und womöglich auf die 100 zusteuert.