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Eingeschlossen im Schneckenhaus

Psychologen der Freien Universität Berlin und der Universität Bern erforschen, wie krankhaft Schüchterne ihre Angst mithilfe eines Internetprogramms behandeln können

15.10.2010

„Ohne Angst das Haus zu verlassen, ist für mich völlig unmöglich“, schreibt Sascha. Daniel hat Angst „vor allem, was mit anderen Menschen zu tun hat“. „Wenn andere lachen, denk’ ich: ,Lachen die über mich?‘“, sorgt sich Mathias. Gert konstatiert, „unter Menschen bin ich meistens ein einziger Komplexhaufen, ich will dann einfach nur weg, alles ist mir peinlich, mein ganzes Erscheinungsbild“, und Laura vertraut „keinem Menschen mehr“, sie ziehe sich immer mehr in ihr Schneckenhaus zurück.

Es sind bewegende Einträge – in den meisten Fällen anonyme Hilferufe –, die krankhaft schüchterne Menschen in Internetforen hinterlassen. Handelt es sich um das Problem einer Randgruppe? Keineswegs, denn die Krankheit, die Psychologen als „soziale Angststörung“ oder „soziale Phobie“ bezeichnen, ist in westlichen Staaten weit verbreitet: „Jeder Siebte erkrankt im Laufe seines Lebens daran, drei Viertel der Betroffenen vor dem 16. Lebensjahr“, sagt Johanna Böttcher vom Arbeitsbereich Klinische Psychologie und Psychotherapie der Freien Universität Berlin: Soziale Angststörung sei die dritthäufigste psychische Erkrankung nach Alkoholabhängigkeit und Depression. Ohne eine Behandlung, etwa durch eine Psychotherapie, wird man sie zumeist nicht los. In Kooperation mit der Universität Bern erforscht die Arbeitsgruppe unter Leitung von Professorin Babette Renneberg in Berlin, ob Betroffenen auch über eine Behandlung im Internet geholfen werden kann.

Unter das Krankheitsbild einer sozialen Angststörung fallen nicht das Lampenfieber vor einer Rede oder die Nervosität während einer Prüfung. Diese haben wohl jeden Menschen schon einmal ergriffen – und letztlich häufig beflügelt. Es geht vielmehr um die überwältigende, auf Schritt und Tritt lähmende Angst vor dem Kontakt mit anderen Personen. Wie bei allen psychischen Störungen geht man davon aus, dass bei den Ursachen der sozialen Phobie vererbte Faktoren sowie Umwelt- und Lernerfahrungen eine Rolle spielen. Frauen sind etwas häufiger betroffen als Männer. Unterschieden wird zwischen Personen, die sich immer wieder vor einer bestimmten Situation fürchten und solchen, die eigentlich fast jede soziale Situation scheuen. Diese starke Ausprägung tritt allerdings vergleichsweise selten auf.

Für Betroffene beider „Typen“ gilt: „Wer unter ausgeprägten sozialen Ängsten leidet, ist in seinem Privat- und Berufsleben und seinem Wohlbefinden insgesamt stark eingeschränkt“, sagt Johanna Böttcher. Dabei könnten soziale Angsstörungen recht erfolgreich behandelt werden, wenn Betroffene nur den ersten Schritt hin zu einer Therapie wagten. Schon anscheinend harmlose alltägliche Situationen werden für sie häufig zur Qual: das Einkaufen etwa, wenn es darum geht, nach dem Regal zu fragen, in dem die Buttermilch steht. Anrufe bei Behörden stellen Betroffene häufig vor ein unüberwindbares Hindernis. Einladungen zu Parties werden abgesagt, Freundschaften schlafen ein. Zwanghafte Schüchternheit könne sogar Lebensläufe beeinflussen, sagt Johanna Böttcher, etwa dann, wenn Betroffene ihren Traumberuf nur deshalb nicht ergriffen, weil sie dann mit vielen Menschen zu tun hätten, oder sich Aufstiegschancen dadurch verbauten, dass sie Gespräche mit Vorgesetzten scheuten oder weil sie Fortbildungen in Gruppen um jeden Preis vermieden. „Das Vermeiden solcher Situationen hilft zwar kurzfristig, die Ängste zu reduzieren“, sagt die Psychologin. Doch langfristig bleibe man in ihnen gefangen.

Ein großes Problem krankhaft schüchterner Menschen ist, dass sie in Situationen mit anderen Menschen nur die negativen Aspekte wahrnehmen; sie fürchten Abwertung und Blamage. Bei einem Vortrag etwa sehen sie im Publikum nur die ablehnenden Gesichter – wohlwollende, interessierte Blicke entgehen ihnen. „Durch diese verzerrte Wahrnehmung gelingt es den Betroffenen nicht, Situationen mit anderen Menschen als angenehm und erfolgreich zu erfahren“, sagt Johanna Böttcher. Betroffene nähmen die wahrgenommenen Angstsymptome als Basis für ein Urteil darüber, wie sie in einer sozialen Situation gewirkt haben.

Hier setzt das internetbasierte Behandlungsprogramm an, für das über einschlägige Internetforen 68 Personen zur Teilnahme ermuntert wurden. In Telefonaten wurden sie behutsam auf das Training vorbereitet: „Wir greifen einen Ansatzpunkt bei sozialen Ängsten heraus und versuchen, die Wahrnehmung der Teilnehmer zu verändern“, sagt die Psychologin. Einen Monat lang mussten die Probanden vom heimischen Computer aus zweimal wöchentlich eine 20-minütige Übung durchlaufen: In dem Programm erschienen auf dem Bildschirm zwei Gesichter – eines mit einem negativen Ausdruck, eines mit einem neutralen. Millisekunden, nachdem sie verschwunden waren, tauchte anstelle der Gesichter jeweils ein Buchstabe auf, der rasch auf der Tastatur gedrückt werden musste. Die Teilnehmer wurden in zwei Gruppen eingeteilt – in eine Trainingsgruppe und in eine „Placebogruppe“. In der Trainingsgruppe erschienen die Buchstaben immer hinter den neutralen Gesichtern. „Wir nehmen an, dass wir durch diese Kopplung von Reiz und neutralem Gesicht die Aufmerksamkeit auf solche neutralen Informationen lenken können“, sagt Johanna Böttcher. Untersuchungen aus den USA legen das nahe. Im Rahmen dieser und weiterer Studien kooperiert die Forschungsgruppe der Freien Universität mit Thomas Berger, einem promovierten Psychologen der Universität Bern, und dessen Kollegen Professor Franz Caspar. Beide gelten im deutschsprachigen Raum als Pioniere für die Erforschung internetbasierter Therapien sozialer Ängste.

Über das Ausmaß der sozialen Ängste gaben die Probanden vor und nach der Studie in standardisierten Interviews Auskunft. Erste Auswertungen zeigen, dass nach dem Training die Teilnehmer in beiden Gruppen weniger soziale Ängste hatten. Auch in der Placebogruppe gab es also eine Verbesserung. „Die Ergebnisse ermutigen uns, der Möglichkeit internetbasierter Therapien weiter nachzugehen, uns dabei jedoch nicht auf die Änderung der Wahrnehmung zu beschränken“, sagt Johanna Böttcher.

In Folgestudien soll nun ein anderes, bereits evaluiertes Behandlungsprogramm untersucht und optimiert werden. Ein möglicher nächster Schritt ist die Kombination von web-basierten Behandlungsprogrammen mit psychotherapeutischen Angeboten, wie sie bereits an der Hochschulambulanz der Freien Universität bestehen.

Durch die Teilnahme an einem Internetprogramm allein könnten die Störungen im Umgang mit anderen nicht beseitigt werden, dies gelte ähnlich wie bei einer herkömmlichen Psychotherapie, sagt Johanna Böttcher. Doch es könne als eine Art Initialzündung wirken: „Wichtig ist, dass sich die Teilnehmer mit dem Erlernten immer wieder in die für sie schwierigen Situationen begeben. Nur dann können die positiven Erfahrungen die erlernten schlechten im Gedächtnis überschreiben.“ Ohne Angst.