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Das Recht der zwei Buchstaben

Vor hundert Jahren wurde in der Tiermedizin erstmals das Promotionsrecht verliehen Der Fachbereich Veterinärmedizin der Freien Universität Berlin feiert die historische Wegmarke

31.05.2010

Richard Eberlein (Mitte), Rektor der Königlichen Tierärztlichen Hochschule Berlin, mit der ihm 1909 verliehenen goldenen Amtskette. Er promovierte 1911 die ersten 12 Doktoranden.

Richard Eberlein (Mitte), Rektor der Königlichen Tierärztlichen Hochschule Berlin, mit der ihm 1909 verliehenen goldenen Amtskette. Er promovierte 1911 die ersten 12 Doktoranden.
Bildquelle: FU Berlin

101 Jahre alt ist die Amtskette inzwischen, die Prof. Dr. Leo Brunnberg, Dekan des Fachbereichs Veterinärmedizin, bei der Ehrung einer Doktorandin trägt (2008).

101 Jahre alt ist die Amtskette inzwischen, die Prof. Dr. Leo Brunnberg, Dekan des Fachbereichs Veterinärmedizin, bei der Ehrung einer Doktorandin trägt (2008).
Bildquelle: Uwe Leinen/FU Berlin

Gleichberechtigt. Ob Elefant Shanti, der von Prof. Erwin Becker (weißer Kittel) untersucht wird ...

Gleichberechtigt. Ob Elefant Shanti, der von Prof. Erwin Becker (weißer Kittel) untersucht wird ...

... oder ein namenloses Schaf – den Veterinärmedizinern ging es auch schon 1952 um das Wohlergehen ihrer Patienten.

... oder ein namenloses Schaf – den Veterinärmedizinern ging es auch schon 1952 um das Wohlergehen ihrer Patienten.
Bildquelle: Gerd-Viktor Krau

Ein pragmatischer Mann war der Verhaltensforscher und Tierfilmer Bernhard Grzimek. Das Huhn, das er für seine Doktorarbeit untersuchte, führte er hinterher der kulinarischen Zweitverwertung zu: „Das Geflügel, dessen Adern ich nach dem Tode mit gefärbten Stoffen und mit Mitteln vollspritzen musste, die sich im Röntgenbild abzeichnen, haben wir zu großen Teilen aufgegessen.“ Seine Arbeit über das Arteriensystem des Huhns verschafft ihm aber nicht nur eine schmackhafte Mahlzeit, er verdient sich auch akademische Anerkennung, damals im Jahr 1933: Die Dissertation wird mit „gut“ bewertet. Besonders loben die Gutachter die „schönen Federzeichnungen“, die Grzimek anfertigte: Dadurch „werden die klaren und eindeutigen Schilderungen sehr schön illustriert.“

Grzimek wird später durchs Fernsehen zum wohl berühmtesten deutschen Tiermediziner aufsteigen; er wird für den Hessischen Rundfunk „Ein Platz für Tiere“ moderieren; seine Dokumentation „Serengeti darf nicht sterben“ wird 1960 den Oscar bekommen, und Loriot wird ihm ein Denkmal setzen mit seinem „Steinlaus“-Sketch. Doch zu Beginn der dreißiger Jahre ist Grzimek noch ein einfacher Tierarzt mit Approbation für das Gebiet des Deutschen Reiches – und ein durchaus typischer Vertreter seine Standes: Einerseits arbeitet er praktisch, andererseits strebt er nach akademischen Weihen.

Denn lange wurden Tierärzte nicht unbedingt als Akademiker wahrgenommen. Der erste Landestierarzt von Sachsen, Gottlieb Carl Haubner, klagte 1856, der tierärztliche Stand sei „ein wenig geachteter oder gar verachteter“ gewesen. Er habe leider „auch aus vielen unmoralischen und unlauteren Subjecten“ bestanden. „Viele junge gebildete Männer, die sich auch in anderen Lebenskreisen bewegen konnten, wurden hierdurch abgehalten, sich der Tierheilkunde zu widmen.“ Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das Studium an „Vieh-Arzeney-Schulen“ eher eine Weiterbildung für Hirten, Schmiede und Schäfer. Das Fach musste um wissenschaftliche Anerkennung kämpfen.

Jetzt feiert der Fachbereich Veterinärmedizin der Freien Universität hundert Jahre Promotionsrecht. Denn als Kaiser Wilhelm II. der Vorgänger-Institution, der Königlichen Tierärztlichen Hochschule zu Berlin, gestattete, den Doktorgrad zu verleihen, war das ein Wendepunkt in der Geschichte der Tiermedizin. Das Recht der zwei Buchstaben veränderte eine ganze Disziplin und verhalf zu akademischem Ansehen. „Heller Jubel, tief empfundene Freude und aufrichtige Dankbarkeit hat den gesamten tierärztlichen Stand ergriffen“, wie der damalige Hochschul-Rektor Richard Eberlein in seiner Festrede verkündete.

Kurz zuvor, 1903, waren bereits die Zugangsvoraussetzungen angehoben worden: Wer Tierarzt werden wollte, musste das Abitur nachweisen. Auch wurden Veterinärmedizinern zunehmend hoheitliche Aufgaben übertragen: Man kannte inzwischen die Übertragungswege von Tierseuchen; der Mensch konnte sich über den Verzehr von Lebensmitteln anstecken. Deshalb wurden Tierärzte mit Fleischbeschau und Lebensmittelüberwachung betraut – einer Aufgabe, die bis heute von den Amtstierärzten wahrgenommen wird. Während des Zweiten Weltkriegs galt Tierarzt zudem als „kriegswichtiger Beruf“. Das Nazi-Regime übertrug den Veterinären weitere hoheitliche Aufgaben; sie mussten sich um Millionen Pferde kümmern, die in die Schlacht trabten, und um die Lebensmittelaufsicht beim Militär.

Heute müssen die Tiermediziner nicht mehr um ihre Anerkennung als Akademiker fürchten. Im Fachbereich Veterinärmedizin der Freien Universität – einer von fünf tiermedizinischen Ausbildungsstätten bundesweit – finden sich neben theoretischen Instituten eine Kleintierklinik, außerdem Kliniken für Pferde, Klauentiere und die erste europäische Blutbank für Hunde. „Fast 8000 Promovenden haben wir bisher betreut“, sagt Leo Brunnberg, Professor für Veterinärmedizin und Dekan des Fachbereichs. Allein an der Kleintierklinik, deren Direktor Brunnberg ist, promovieren derzeit junge Wissenschaftler aus 13 Nationen. Er selbst betreut acht Doktoranden. „Durch die Verleihung des Promotionsrechts vor hundert Jahren ist die Tiermedizin gleichwertig neben andere wissenschaftliche Disziplinen getreten“, sagt er. Erst dadurch sei sie auf Augenhöhe mit anderen Fächern.

Wenn er in den Dissertationen der vergangenen Jahrzehnte blättert, muss Brunnberg schmunzeln. „Das Pferd in der chinesischen Kunst“ lautet der Titel einer Arbeit aus dem Jahr 1920. Die Dissertationen spiegeln sowohl wissenschaftliche als auch gesellschaftliche Trends wider. Eine Arbeit mit dem Titel „Die Brieftaube – Ihre Verwendung und ihre Krankheiten“ von 1918 ist auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass im Ersten Weltkrieg 120 000 Brieftauben Millionen von Nachrichten überbrachten. Amerikaner, Briten, Franzosen – sie alle vertrauten den Tieren, die fast immer nach Hause finden, bis zu 1000 Kilometer am Tag fliegen können und selbst bei geschlossener Schneedecke noch wissen, wo es langgeht. In keinem anderen Krieg flogen so viele Tauben mit Nachrichten am Fuß wie in den Jahren 1914 bis 1918. Die Deutschen karrten rund 500 mobile Taubenschläge durch Europa. Wer zwei Tauben mit derselben Nachricht losschickte, konnte sicher sein, dass mindestens eine ans Ziel kam.

Aktuelle Promotionsarbeiten sind thematisch breit gefächert: Untersucht werden zum Beispiel molekulare Aspekte der Veterinärmedizin, klinische Fragestellungen oder Themen aus dem öffentlichen Gesundheitswesen. Auch Arbeiten wie „Zusammenhänge zwischen Hundeverhalten und unterschiedlicher Einschränkungen des Hundes durch die Leine“ finden ihren Platz.

Brunnberg selbst hat seine Dissertation über Ellbogenfrakturen geschrieben und darüber, wie sie möglichst schonend behandelt und operiert werden können – heute würde man sagen: minimalinvasiv. Später folgte die Habilitation über die Behandlung von Kreuzbandverletzungen, die bei Hunden besonders häufig auftreten. Neben der wissenschaftlichen Arbeit operiert er viel, meist Hunde und Katzen, manchmal aber auch Exoten wie den Schneeleoparden, dem Brunnberg ein künstliches Hüftgelenk verpasste. Jedes Jahr werden allein in der Kleintierklinik knapp 30 000 Tiere behandelt.

Die Promotionsquote in der Veterinärmedizin liegt seit vielen Jahren relativ konstant bei etwa 60 Prozent. Darunter sind viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem Ausland, oftmals gefördert durch Stipendien des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) oder mit Mittel ihrer Heimatländer. Die Internationalisierung der Promotionen in der Veterinärmedizin ist ausdrückliches Ziel des Fachbereichs, der Erfolg belege die hohe Attraktivität des Standortes im In- und Ausland, sagt Brunnberg. Durch die Etablierung eines Promotionsstudiengangs sowie zwei Graduiertenkollegs gäbe es für junge Wissenschaftler herausragende Promotionsbedingungen in einem attraktiven Umfeld.