Springe direkt zu Inhalt

Freie Universität in der Zeitmaschine

Der neugewählte Präsident, Peter-André Alt, entwirft das Bild der Hochschule für das Jahr 2030

31.05.2010

Der Neue: Peter-André Alt wurde am 12. Mai zum Präsidenten der Freien Universität Berlin gewählt.

Der Neue: Peter-André Alt wurde am 12. Mai zum Präsidenten der Freien Universität Berlin gewählt.
Bildquelle: Cordula Giese

von Peter-André Alt

Über die Zukunft lässt sich in mindestens zwei Formen fantasieren. Man kann sich des seit Thomas Morus eingeführten Musters der Utopie bedienen und einen Raum der unerfüllten Möglichkeiten entwerfen. Und man kann Ideen folgen und fragen, wie die Welt aussähe, wenn sie Wirklichkeit wären. Utopien sind, so hat es der Philosoph Ernst Bloch formuliert, Modelle, in denen der Mensch seine Hoffnungen ordnet. Ideen wiederum bilden den Treibsatz, der sie in Bewegung bringt. Wer Utopien ohne Ideen entwickelt, verfängt sich in toten Abstraktionen; wer Ideen ohne utopischen Beistand denkt, beraubt sich der Chance, die Zukunft durch Gedanken zu modellieren.

In diesem Sinne ist das folgende Szenario ein Vorstellungsbild, das Idee und Utopie einer zukünftigen Freien Universität entwirft – jedoch so, dass das Realitätsprinzip nicht außer Kraft gesetzt wird. Wunsch und vermutete Wirklichkeit bedingen sich darin wechselseitig.

Im Jahr 2030 wird universitäre Forschung keine regionale oder nationale Angelegenheit sein, sondern in großen, weltweiten Verbünden stattfinden. Wissenschaftler werden weniger reisen, um sich auszutauschen, sie werden durch Zuschalten via Internet miteinander kommunizieren. Gemeinsame Labor- und Grabungsprojekte, große geistes- und sozialwissenschaftliche Verbundvorhaben finden so über digitale Verkehrsformen statt.

Die Wissenschaftlerin aus New York oder Neu-Delhi, der Wissenschaftler aus Brüssel oder Beijing kommentieren und begleiten Arbeitsprozesse der Feldforschung, Experimente und Diskussionen über den Weg der Bildschirmkommunikation. Das erleichtert die Durchführung der Projekte, ermöglicht größere Teilhabe und schafft gleichzeitig Spielräume für die Arbeit am eigenen Institut. Professoren sind für ihre Studierenden besser erreichbar, weil sie weniger als bisher unterwegs sein müssen und dennoch internationale Vorhaben organisieren können.

Die Freie Universität bildet 2030 das Herzstück eines großen Dahlemer Forschungscampus, in den die hier ansässigen Max-Planck-Institute einbezogen sind. Ihre Arbeitsgebiete sind nicht mehr im engeren Sinn disziplinär, sondern transdisziplinär angelegt. Damit nehmen sie Entwicklungen auf, die unsere Universität durch den Aufbau ihrer fächerübergreifenden Focus Areas seit 2005 angestoßen hat. Im Verbund mit den Max-Planck-Instituten wird in expandierenden Gebieten wie denen der Geoarchäologie, der Risiko- und Sicherheitsforschung, der Stadtplanung, der internationalen Politikwissenschaft und der digitalen Medizin gearbeitet. Die Freie Universität bewahrt die Pluralität ihrer Fächer, weil Forschungsinnovationen 2030 nur durch fächerübergreifende Perspektiven umgesetzt werden. Das wiederum verlangt die Bereitstellung einer Vielzahl von Disziplinen, ohne die das Zusammenspiel des Unterschiedlichen nicht möglich ist.

Der Forschungscampus Dahlem im Jahr 2030 ist ein mit europäischen Fördermitteln abgesicherter Raum der transdisziplinären Erkundungen, der auch glänzende Perspektiven für den Nachwuchs bietet. Junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt durchlaufen hier verschiedene Stationen einer akademischen Karriere von der Promotion über die Postdoktorandenzeit und die Leitung einer eigenen Forschergruppe bis hin zur Berufung. In Risikophasen, wie sie beim Übergang von einer Karrierestufe in die nächste auftreten, helfen ihnen flexible Finanzierungsmodelle. Sie verhindern die Abwanderung ins Ausland und machen die akademische Laufbahn planbarer, als das heute der Fall ist.

In die außeruniversitäre Kooperation hat die Freie Universität 2030 weitere Partner einbezogen, die für anwendungsbezogene Forschung stehen: die Fraunhofer-Institute, die Helmholtz-Gemeinschaft und diverse Einrichtungen des Bundes. Gemeinsam mit ihnen werden Brücken vom Studium in das Erwerbsleben geschlagen, unter anderem durch Programme zur Förderung beruflicher Selbstständigkeit, wie sie das Gründerzentrum der Freien Universität Berlin heute schon auflegt.

Starke außeruniversitäre Partner spielen auch deshalb eine zunehmende Rolle, weil mit ihnen die großen logistischen und technischen Probleme gelöst werden können, die ein moderner Campus aufwirft. Neue Gebäude, Labors und Bibliotheken entstehen in Dahlem auf der Basis einer Mischfinanzierung, zu deren Effekten die Konzentration der Kräfte gehört. Eine gemeinsame Entwicklung und Nutzung von Räumen macht Forschung und Lehre auf hohem Niveau möglich.

Die Studienbedingungen des Jahres 2030 sind durch eine starke Globalisierung bestimmt. Jeder zweite Studierende hat einen internationalen Bildungshintergrund. Die vorherrschende Sprache, die man auf dem Campus hört, ist Englisch, die Lingua franca des 21. Jahrhunderts – ein Zukunftsbild, das ich als Germanist mit durchaus gemischten Gefühlen betrachte.

In Zeiten, da Kommunikation vielfach indirekt über digitale Netzwerke stattfindet, gewinnt die traditionelle Verständigung in Seminargruppen und Kolloquien eine neue Bedeutung. Die herausragenden Hochschulen der Welt, zu denen die Freie Universität Berlin heute wie künftig gehört, zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihren Studierenden dichte Lehr- und Betreuungsangebote jenseits digitaler Kommunikation bieten. Die alte akademische Gesprächskultur wird im Zeitalter elektronischer Medien zu einer seltenen und daher besonders wichtigen Qualität.

Was können wir im Jahr 2030 nicht erwarten? Dass uns der Staat zuverlässig in unseren Planungen, unterstützt – seine Kassen werden noch leerer sein als heute. Dass die Bibliotheken weiterhin Oasen der Bücher sind – in 20 Jahren werden hier mehr Datenbanken als gedruckte Dokumente genutzt. Dass wir die Freiheit haben, uns den Zielsetzungen einer globalisierten Welt zu entziehen – Wissenschaft wird stärker als heute über ihren praktischen Beitrag zur Lösung sozialer und technischer Probleme definiert. Wir müssen daher unsere Programme und Problemlösungsentwürfe selbst zu steuern suchen, ohne uns treiben zu lassen. Dazu gehört, wie Ernst Bloch formuliert hat, dass wir das Hoffen lernen. Nicht um zu träumen, sondern um die Zukunft erfolgreich mitgestalten zu können.

Der Autor ist am 12. Mai 2010 zum Präsidenten der Freien Universität Berlin gewählt worden. Er ist Literaturwissenschaftler und Direktor der Friedrich-Schlegel-Graduiertenschule sowie der Dahlem Research School, unter deren Dach die strukturierten Promotionsprogramme der Freien Universität koordiniert werden.