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Was Hölderlin und Hertha-Fans eint

Wissenschaftler der Nachwuchsforschergruppe „Verehrung und Bewunderung“ am Exzellenzcluster „Languages of Emotion“ zeigen, dass Stadiongesänge den Dichterhymnen ähneln

19.04.2010

Hölderlin am Maxim Gorki Theater Berlin: Antigonae ( Anja Schneider) und Ismene (Britta Hammelstein) am Grab des Bruders Polyneikes (Sebastian Rudolph) in einer Inszenierung von 2008.

Hölderlin am Maxim Gorki Theater Berlin: Antigonae ( Anja Schneider) und Ismene (Britta Hammelstein) am Grab des Bruders Polyneikes (Sebastian Rudolph) in einer Inszenierung von 2008.
Bildquelle: Thomas Aurin

F. Hölderlin (1770-1843), Pastell von F.K. Hierner, 1792.

F. Hölderlin (1770-1843), Pastell von F.K. Hierner, 1792.
Bildquelle: Deutsches Literaturarchiv Marbach

Im Juni, wenn die Fußball-Weltmeisterschaft in Südafrika startet und in Berlin vor lauter Public Viewing kein Durchkommen mehr ist, dann wird man sie wieder hören: „54, 74, 90, 2010: Ja, so stimmen wir alle ein! Mit dem Herzen in der Hand und der Leidenschaft im Bein werden wir Weltmeister sein!“ Schon bei der Fußball-WM 2006 wurde dieses Lied der Sportfreunde Stiller von den Fans in den Stadien gesungen. Damals brachte es Deutschland zwar nicht den ersehnten Titel, aber es inspirierte den Literaturwissenschaftler Johannes Windrich dazu, das Thema Verehrung und Bewunderung in der Literatur zu erforschen: „Beim Eröffnungsspiel Deutschland gegen Costa Rica fand ich es faszinierend, wie sich die Bewunderung der ganzen Welt auf die Fußballer richtete. Dabei habe ich mich gefragt, warum sich die Literaturwissenschaft eigentlich so wenig mit dem Rühmen und Preisen in der Dichtung beschäftigt.“

Seit 2008 ist Windrich Leiter der Nachwuchsforschergruppe „Verehrung und Bewunderung“ am Exzellenzcluster „Languages of Emotion“ der Freien Universität Berlin. Gemeinsam mit der Psychologin Ines Schindler und der Soziologin Veronika Zink arbeitet er daran, die Emotionen „Verehrung und Bewunderung“ interdisziplinär zu erforschen. Sein Schwerpunkt liegt dabei auf Hymnen – lyrische Texte, in denen etwas Höheres gepriesen wird. Viel weiter ist die Forschung bei der Definition dieser Gattung noch nicht gekommen. „Einige der wichtigsten Gedichte von Hölderlin, aber auch von Novalis und Goethe werden gewöhnlich als Hymnen bezeichnet. Trotzdem ist bis heute nicht ganz klar, was eine Hymne denn eigentlich ist“, erklärt Windrich. Deshalb widmet er sich der Frage, wie Verehrung und Bewunderung in der Lyrik ausgedrückt werden können. An Hölderlin führt da kein Weg vorbei.

„Das helle Himmelblau und die reine Sonne über den nahen Alpen waren meinen Augen in diesem Augenblicke um so lieber, weil ich sonst nicht hätte gewußt, wohin ich sie richten sollte in meiner Freude.“ Als Hölderlin 1801 diese Zeilen an seine Schwester schrieb, bezog er sich auf ein politisches Ereignis seiner Zeit: den Friedensschluss von Lunéville. Der Friedensvertrag besiegelte das Ende des zweiten Koalitionskrieges gegen Frankreich und weckte bei dem Dichter die Hoffnung, dass nun doch bald ein dauerhafter Friede anbrechen könnte. Seine Begeisterung und sein Enthusiasmus für diese Idee kommen in seiner Hymne „Friedensfeier“ zum Ausdruck: „Viel hat von Morgen an,/Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander,/Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang“.

Die Hölderlin-Forschung arbeitete sich später intensiv an diesen Versen ab. Die Zeitgenossen Hölderlins reagierten auf seine Dichtung dagegen mit Unverständnis: „Für den seltenen Sterblichen, der die (…) Gedichte von Hölderlin zu verstehen sich mit Recht rühmen kann, sollte ein stattlicher Preis ausgesetzt werden, und wir würden selbst den Verfasser nicht von der Mitbewerbung ausschließen.“ Schuld an dem Missverständnis war, sagt Windrich, etwa Hölderlins Umgang mit literarischen Konventionen: „Vor allem beim späten Hölderlin lassen sich die typischen Elemente einer Hymne nur noch in verfremdeter Gestalt erkennen.“

Nach Meinung der meisten Forscher besteht die klassische Hymne aus drei oder vier Sprechakten: der Anrufung eines Höheren – eines Gottes zum Beispiel – , seiner Preisung, einer abschließenden Bitte und manchmal auch einer Ermahnung einer Gemeinde. Bei Hölderlin, Goethe oder Novalis fällt die Zuordnung zur Gattung deshalb so schwer, weil auch für Experten nicht immer eindeutig zu erkennen ist, ob da gelobt, gepriesen oder schon ermahnt wird – oder ob es um etwas ganz anderes geht. Um dieses Problem zu lösen, analysiert Windrich, wo und wie in den Texten Emotionen wie Bewunderung, Verehrung oder Ehrfurcht dargestellt werden. Auf diese Weise versucht er die Abweichungen vom ursprünglichen Muster der Hymne zu identifizieren. Anregungen und interessante Parallelen fand er auch hier beim Fußball. „Wenn man im Stadion genau hinhört, kann man feststellen, dass Fangesänge mit denselben Sprechakten arbeiten wie die Hymnen.“ Mit etwas Phantasie kann man durchaus erkennen, dass in der Hertha-Hymne die Preisung von etwas Höherem und der abschließende Treueschwur stecken: „Blau-Weiß sind unsere Farben, Hertha ist unser Verein! Wir werden dich im Herzen tragen, und lassen dich niemals allein!“ Und so wie die Dichter schildern, aus welcher Not sie sich zur Anrufung des Göttlichen emporschwingen, singt man auch in Dortmund: „Gemeinsam durch das Tränental / geschlossen Hand in Hand / und am Ende der dunklen Gasse / erstrahlt die gelbe Wand“.

Auch wenn man über die literarische Qualität der Stadionhymnen sicherlich streiten kann: Für Windrich sind sie eine Bestätigung, dass „Verehrung und Bewunderung im Leben eine viel größere Rolle spielen, als sie es bislang in der Forschung tun“. Erste Ergebnisse seiner Arbeit wird er bei der Jahrestagung der Hölderlin-Gesellschaft präsentieren.

Dass die Veranstaltung dieses Jahr an der Freien Universität Berlin stattfindet, begrüßt auch Martin Vöhler, Germanist am Sonderforschungsbereich „Ästhetische Erfahrung“ und Mitherausgeber des Hölderlin-Jahrbuchs: „Berlin hat eine langjährige Tradition in der Hölderlinforschung und eine lebhafte Theaterlandschaft. Das Thema ,Hölderlin und das Theater‘ passt deshalb sehr gut hierher.“

Hölderlin, nach seinem Tod 1843 beinahe hundert Jahre lang vergessen und danach von den Nationalsozialisten als vaterländischer Dichter missbraucht, wurde erst in den 1960er Jahren wiederentdeckt – unter anderem an der Freien Universität Berlin. Dass die Lyrik Hölderlins für die Studentenbewegung beinahe ähnlich wichtig wurde wie die Arbeiten von Marx, ist vor allem Peter Szondi zu verdanken, nach dem das Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft benannt ist: „Über die Auseinandersetzung mit der Geschichtsphilosophie und Poetik entdeckte man in der Zeit der Studentenbewegung das politische Potenzial Hölderlins: die Kritik gegenüber seinen Zeitgenossen und den gesellschaftlichen Konventionen, aber eben auch eine starke Hoffnung auf eine völlige Veränderung der Gesellschaft, auf eine Revolution“, sagt Martin Vöhler. Szondis Verdienst war es auch, dass diese politische Lesart ein großes Publikum erreichte und zu einer Hölderin-Wiederentdeckung unter Germanisten beitrug. Dass es heute weniger um die politische Seite von Hölderlins Dichtung geht, sondern vielmehr um seine Sprache und Metrik versteht Martin Vöhler nicht als einen Paradigmenwechsel in der Forschung: „Es zeigt, wie komplex Hölderlins Werk ist – es bleibt eine ständige Herausforderung.“