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Kirche, Karpfen, Gans und Geschenke

Ein Gespräch mit dem Kulturanthropologen Professor Christoph Wulf über Weihnachtsrituale

12.10.2009

Christoph Wulf

Christoph Wulf

Herr Professor Wulf, Rituale – das klingt ein wenig altmodisch und konservativ, welche Rolle spielen Rituale heute?

Eine sehr große. Gerade in unserer Zeit, in der das Individuum stark betont wird. Rituale, also wiederkehrende Handlungen, erzeugen nämlich das Gefühl von Zusammengehörigkeit, sie verankern den Einzelnen in einer Gruppe. Das gibt Sicherheit. Das Soziale entsteht im Prinzip erst durch Rituale.

Zu den Ritualen, die Sie untersucht haben, gehören auch Familienfeste, vor allem Weihnachten.

Weihnachten ist das zentrale Familienritual in unserer Kultur. Selbst in Familien, in denen Religion keine Rolle spielt, wird Weihnachten inszeniert – als Familienfest. Es ist fast unmöglich, darauf zu verzichten, wenn man Kinder hat.

Warum?

Die Wiederkehr des Gleichen, also die Wiederholung von Handlungen, strukturiert das Leben, schafft einen Rhythmus. Das erzeugt Sicherheit, dafür haben gerade Kinder ein feines Gespür. Rituale sind auch geteilte Erfahrung: Kinder und Eltern erinnern sich etwa an das vergangene Weihnachtsfest, die Wiederholung der in der Familie üblichen Abläufe erzeugt eine Ordnung, einen Sinn.

Auf welche Weihnachtsrituale sind Sie gestoßen?

Vor allem drei Handlungen sind wichtig: der Kirchenbesuch, der Austausch von Geschenken und das gemeinsame Essen. Gemeinsame Mahlzeiten sind immer ein verbindendes Moment in Gemeinschaften. Beim Weihnachtsessen trifft sich die ganze Familie, man isst und spricht miteinander. In manchen Familien gibt es immer Karpfen oder immer Gans, oft wird eine solche Tradition von Generation zu Generation weitergetragen.

Wie ist das mit den Geschenken?

Weihnachtsgeschenke spielen in allen Familien eine Rolle. In manchen steht der materielle Aspekt im Vordergrund: Es wird viel geschenkt und teuer. In anderen Familien wird bewusst wenig geschenkt. So haben wir erlebt, dass Schenken als eine kommunikative Handlung verstanden werden kann: Beim Verschenken erzählte man sich, warum man welches Geschenk für wen ausgewählt hat.

Und der Kirchgang?

In die Kirche gehen natürlich nicht alle, aber für viele, die das während des Jahres nicht tun, gehört der Besuch des Weihnachtsgottesdienstes einfach dazu. Man kann heute in vielen Teilen der Gesellschaft eine Wiederentdeckung des Religiösen feststellen. Rituale, die ja im Religiösen eine wichtige Funktion haben, üben häufig eine Faszination auch auf nicht-religiöse Menschen aus.

Neben der klassischen Familie „Vater, Mutter, Kinder“ gibt es viele verschiedene Lebensformen: kinderlose Paare und Singles, Patchwork-Familien oder Alleinerziehende mit Kindern. Wirken sich die veränderten Familienstrukturen auf die Weihnachtsrituale aus?

Nein. Kinder, deren Eltern getrennt leben, feiern einfach an mehreren Tagen Weihnachten: Heiligabend vielleicht bei der Mutter, am ersten Weihnachtstag beim Vater. Aber auch in den sogenannten intakten Familien wird Weihnachten in unserer Kultur oft an mehreren Tagen gefeiert. Der 24. Dezember ist das Fest der Kleinfamilie, am 25. wird der Kreis erweitert. Es kommen Geschwister, Eltern, Großeltern dazu, am zweiten Weihnachtsfeiertag vielleicht noch Freunde.

Oft geht es an Weihnachten nicht nur harmonisch zu: Ist der sprichwörtliche Familienkrach zum Fest auch schon ein Ritual?

Das könnte man so sagen. Dass Streitigkeiten ausgerechnet zu Weihnachten ausbrechen, hat mit den hohen Erwartungen zu tun, die man an diese speziellen Tage hat. Mit der Sehnsucht nach einem anderen Leben, das man aber nicht leben kann. Glückssehnsucht ist eben das eine, das andere ist, das Glück leben zu können.

Wie bekommt man einen Weihnachtskrach in den Griff?

Oft auch über Rituale! Das gemeinsame Essen an einem Tisch kann hier eine wichtige Rolle spielen, wieder miteinander ins Gespräch zu kommen.

Die Fragen stellte Christine Boldt.

Christoph Wulf ist Professor für Anthropologie und Erziehung am Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie. Er ist Leiter der Berliner Ritualstudie, die zwölf Jahre lang im Rahmen des Sonderforschungsbereichs „Kulturen des Performativen“ an der Freien Universität Rituale unter anderem in Familien untersucht hat.