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Zwischen Preußen-Lob und Friedrich-Schelte

Wissenschaftler untersuchen das Wirken Friedrichs des Großen aus europäischer Perspektive

09.10.2009

Von Katharina Daniels

Er gilt vielen als die Personifikation des Preußischen: Friedrich II., der gestrenge, aber gerechte Landesvater, der sich selbst als „ersten Diener des Staates“ bezeichnete und Preußen zur Großmachtstellung verhalf. Ein außergewöhnliches Forschungsprojekt untersucht jetzt das Wirken des „Alten Fritz“ aus einem speziellen Blickwinkel: nämlich aus europäischer Sicht. 49 Wissenschaftler aus sieben europäischen Staaten werden die Auswirkungen preußischer Politik und Kultur auf Europa sowie die europäischen Impulse für Preußen untersuchen. Bernd Sösemann, Professor für Geschichte der öffentlichen Kommunikation an der Freien Universität Berlin, ist der geistige Vater des zukunftsweisenden Vorhabens, an dessen Ende ein zweibändiges Werk mit einem Gesamtumfang von rund 900 Seiten den wissenschaftlichen Diskurs widerspiegeln soll – rechtzeitig zum 300. Geburtstag des frankophilen Preußenherrschers am 24. Januar 2012.

Vorgesehen sind bis 2011 drei große Klausurtagungen im deutsch-italienischen Kulturzentrum Villa Vigoni am Comer See. Die erste Tagung, die bereits Ende September stattfand, verortete die grundlegenden Positionen der Wissenschaftler zum Forschungsthema „Friedrich der Große“ aus philosophischer, historischer, künstlerischer, kommunikativer, kirchlicher, wirtschaftlicher sowie staatswissenschaftlicher und politischer Perspektive. Zwischen den Folgetagungen im Juni des Jahres 2010 sowie im Februar 2011 sollen kleinere Symposien und ein steter Austausch zur Weiterentwicklung von Positionen und zum Finden eines differenzierten Gesamtbildes beitragen. „Ein Kontrastprogramm zu dem, was in der Friedrich-Forschung landauf-landab geschieht“, sagt Sösemann, der für dieses Vorhaben die Drittmittel eingeworben hat und das Projekt gemeinsam mit dem Marburger Philologen Professor Gregor Vogt-Spira leitet.

Drei Facetten verdeutlichen das Besondere des Forschungsprojekts. „Wir wollen aus der nationalstaatlichen Betrachtung herauskommen und die europäischen Zusammenhänge deutlich machen“, skizziert Sösemann die neue Perspektive auf den Monarchen als Objekt im Spiegel europäischer Politik und Kultur. Fokussierte sich die Darstellung Friedrich II. bislang vornehmlich auf ihn als Subjekt, als Impulsgeber gesellschaftlicher Strömungen und politischer Standortbestimmungen, so liegt das Ziel der knapp zweieinhalb Jahre umfassenden Forschungstätigkeit in der Betrachtung des „Alten Fritz“ als Reflektor und Symbol europäischer Gemeinsamkeiten und Unterschiede bis zum heutigen Tage: Eine Herangehensweise, die verdeutlicht, wie sehr das Verständnis der Vergangenheit die Gegenwart erklärt und für die Zukunft Perspektiven eröffnet.

Ein Beispiel aus den insgesamt sieben Forschungssektionen ist die lingua franca höfischer Zeremonien, die die Monarchien im 18. Jahrhundert charakterisierte. Bestimmte Abläufe, ob nun in der habsburgisch-spanischen, in der französischen, in der skandinavischen oder in der preußischen Monarchie, unterlagen generellen Richtlinien, etwa die Frage, welcher Repräsentant der Kirche die Salbung vornehmen durfte. Der Hofgeistliche? Oder gar der Kardinal oder der Bischof? Und an welcher Stelle in der Krönungszeremonie? Erst die korrekte Befolgung der Richtlinien sicherte den Herrschenden die Anerkennung unter Gleichen, die Anrede als „confrère“. Und dennoch: Es gab Variationen im jeweiligen nationalen Habitus, das hat die Forschung herausgefunden. Wie weit solche Abweichungen möglich und zulässig waren, dies wollen die Forscher – auch im interdisziplinären Diskurs – bis zum Jahr 2011 herausarbeiten.

Die Sicht von außen auf Friedrich den Großen erstreckt sich im Tagungsdesign bis in die heutige Zeit hinein. „Als Legende, als Stereotyp, als Mythos diente und dient der ,Alte Fritz‘ weit über sein zeitimmanentes Wirken hinaus“, sagt Sösemann. So wurde der siegreiche Feldherr immer wieder als Wahrzeichen autoritärer Regime von Mussolini bis Hitler benutzt. „Mehrzweckwaffe Friedrich der Große“, spitzt Sösemann diese Verfremdung zu. Unter dem Titel „Zwischen Preußen-Lob und Friedrich-Schelte“ beschäftigt sich ein weiteres Forschungsfeld mit der Haltung der katholischen Kirche zu Friedrich II. Sie stand dem Preußenherrscher als überzeugtem Calvinisten sehr kritisch gegenüber, Preußen als Staat hingegen wurde positiv beurteilt.

Mit der Tagungsreihe wolle man „heraus aus den Nischen akademischer Nabelschau“, sagt Sösemann. Jeder Referent ist im Rahmen der Tagungstrias gehalten, seine Position zu verfechten, gegebenenfalls zu verfeinern und auf der Folgetagung erneut unter Beweis zu stellen. „Akademisches Lernen und Begreifen, die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ sieht Sösemann als Charakteristikum des Forschungsprojekts. Das „dialogorientierte Forschen“ spiegelt erneut die lebendige Fortführung der Geschichte in die Gegenwart hinein: Einzig Friedrich den Großen erachtete der französische Philosoph Voltaire als angemessenen Gesprächspartner aus den Reihen europäischer Monarchen. Aus heutiger Sicht könne der Preußenherrscher getrost als „der Beste im Kontext der schreibenden Monarchen“ angesehen werden, sagt Sösemann. „Und derer gab es viele.“

Den innovativen Forschungsansatz des europäischen Blicks auf Friedrich den Großen in enger Kooperation mit Bildungs- und Forschungsstätten im europäischen Ausland zu kultivieren, dies ist die dritte Besonderheit der Tagungstrias. Wegweisenden Charakter etwa hat die Vernetzung der Freien Universität Berlin mit den Universitäten in Cambridge und Turin und außeruniversitären Forschungsstätten wie dem Goethe-Institut Turin. Sponsoren der gesamten Tagungsreihe sind die Fritz-Thyssen-Stiftung, die Gerda Henkel Stiftung und die Villa Vigoni. Im Franz Steiner Verlag erscheint im Herbst 2011 das zweibändige Werk. Weitere Sponsoren richten Abschlussveranstaltungen in den Metropolen Rom, Turin, Paris, London, Hamburg und Berlin aus. Begleitprogramme wie etwa eine Filmreihe in der „Cinemathek“ Turin oder eine Kunstausstellung in Hamburg setzen zusätzliche Akzente.