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Glückliche Momente in der Katastrophe

Berliner Archivare helfen ihren Kollegen vom Kölner Stadtarchiv

03.09.2009

Von Jan Bosschaart

Ein wenig sei es wie Weihnachten gewesen, sagt Birgit Rehse: Vor dem Öffnen jeder Kiste habe sie keine Ahnung gehabt, welcher Inhalt sie erwartet. Von absolut profanen Akten der letzten Jahre über Bewilligungen für Gastarbeiter-Aufenthalte aus den 1960er Jahren bis zu Pergamentschnipseln aus dem Spätmittelalter fiel der Leiterin des Universitätsarchivs der Freien Universität ganz Unterschiedliches in die Finger – oft aus derselben Archiv-Box. Der Anlass für ihre Tätigkeit hingegen war weniger erfreulich: Gemeinsam mit zwei Kollegen half Birgit Rehse Anfang Juli eine Woche freiwillig beim Sichten und Erhalten der geborgenen Reste des Kölner Stadtarchivs, das am 3. März dieses Jahres eingestürzt war.

Den Impuls, Hand anzulegen, hatte die Archivarin gleich nach den ersten Schreckensnachrichten aus Köln. Doch dann entschied sie, zunächst abzuwarten – die Zahl der freiwilligen Helfer war unmittelbar nach dem Unglückstag mehr als ausreichend. Zum Sommerbeginn aber fehlten die Freiwilligen am Unglücksort, und ein Aufruf des Verbandes deutscher Archivarinnen und Archivare e.V. gab schließlich den Ausschlag: Birgit Rehse machte sich mit ihren Kollegen vom Universitätsarchiv auf den Weg nach Westen. Die Freie Universität hatte ihnen dafür Sonderurlaub gewährt, die Fahrtkosten übernahm die Stadt Köln.

Die drei Berliner arbeiteten im Erstversorgungszentrum am Stadtrand, in das Feuerwehr und Technisches Hilfswerk die von der Einsturzstelle geborgenen und mit Bauschutt vermengten Akten brachten. In Schutzanzügen, die bei bestem Sommerwetter schon nach wenigen Minuten kein trockenes Haar mehr am Körper ließen, durchsuchten Rehse und ihre Kollegen Irene Jentzsch und Frank Lehmann die herbeigebrachten Kisten, reinigten die Papiere, listeten die einzelnen Dokumente auf und sortierten sie nach ihrer Herkunft. Durchnässtes Material kam gleich von der Unglücksstelle zur Gefriertrocknung; feuchte, klamme oder auch scheinbar trockene Papiere brachten die Helfer zur Lufttrocknung in eine Halle mit überdimensionierten Föhnen und nur 25 Prozent Luftfeuchtigkeit. Die trockenen Archivalien hingegen gelangten direkt in andere Archive, die vorübergehend Magazinflächen zur Verfügung stellten.

Zeitweise arbeiteten die Helfer in bis zu drei Schichten, um zu sortieren, Akten grob von Bauschutt und Staub zu befreien und eine erste Einordnung vorzunehmen: Worum handelt es sich? Aus welcher Zeit stammt es? Zu welchem Bestand gehört es? Darüber hinaus wurden alle Fundstücke in einer Datenbank verzeichnet, damit die Bestände künftig leichter zusammenzufügen sind.

Dabei pendelten die Archivare stets zwischen Entsetzen und Freude: Sie sei schockiert gewesen über den kulturellen Verlust für künftige Generationen, sagt Birgit Rehse, und darüber, wie heillos durcheinander die Fundstücke geraten waren. Da sich das mehrstöckige Archiv vor dem Einsturz stark geneigt hatte, wurden unterschiedliche Bestände vermischt. Begeisterung hingegen kam auf, als ein Mitarbeiter des Universitätsarchivs ein gut erhaltenes Schreinsbuch in einer Box fand. Diese Bücher sind eine Kölner Besonderheit, quasi ein erstes Grundbuch, das bereits im 13. Jahrhundert beginnt und schon auf Papier geführt wurde, was zu jener Zeit in Nordeuropa noch nicht üblich war. „Das zu finden – und es sogar intakt zu finden – hat für sämtliche Mühen im stickigen Schutzanzug entlohnt“, sagt die Leiterin des Universitätsarchivs. Ein zerfetztes historisches Geburtenregister hingegen, das unter fünf Kilogramm Bauschutt lagerte, trübte ihre Stimmung wieder.

Die Atmosphäre unter den freiwilligen Helfern sei dennoch gut gewesen, weil alle das gleiche Ziel geeint habe, betonen die Archivare der Freien Universität. Sie trafen keineswegs nur Berufskollegen vor Ort: Neben Lehrern aus Thüringen, Historikern aus der Schweiz, vielen engagierten Kölner Bürgern und selbst einer aus Australien angereisten Freiwilligen halfen auch viele Niederländer, Polen und Tschechen mit. Trotz der Übernachtung in Notunterkünften und der Pflicht zum Tragen der schweißtreibenden Schutzanzüge, die vor allem vor Schimmelpilzen schützen sollten, sei ausdauernd und klaglos gearbeitet worden, erzählt Birgit Rehse.

Außer dem guten Gefühl, geholfen zu haben, nahmen die Universitätsarchivare auch ganz praktische Lehren mit zurück nach Berlin: „Ich werde mich jetzt verstärkt um die Notfallvorsorge unseres Archivs kümmern“, sagt Birgit Rehse. Selbst Fragen nach vermeintlichen Kleinigkeiten wie dem Nutzen von Archivkartonagen oder danach, welchem Schlauchhefter der Vorzug zu geben sei, erhielten bei der Arbeit im Erstversorgungszentrum plötzlich eine in der Praxis erprobte Antwort.

Dass die Berliner Helfer mittlerweile wieder zurück sind, heißt nicht, dass die Arbeit in Köln getan wäre: Auch wenn das Erstversorgungszentrum seine Aufgabe vermutlich in den kommenden Monaten erfüllt hat, wird die Zusammenführung der Bestände, die Restaurierung der beschädigten Dokumente und das erneute Bereitstellen des Archivs für die Öffentlichkeit wohl eine ganze Generation von Archivaren beschäftigen, schätzt das Team vom Universitätsarchiv.