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Ein machtvolles Instrument

In einem neuen Graduiertenkolleg erforschen Wissenschaftler der Freien Universität die nichtsprachlichen Aspekte von Schrift

Von Eva Cancik-Kirschbaum

Als der Jesuit und Universalgelehrte Athanasius Kircher um die Mitte des 17. Jahrhunderts über die Anfänge der Zivilisation nachdachte, diente ihm die Schrift als eines von mehreren Leitmerkmalen. Wo nahm sie ihren Anfang? Wie erklärt sich die Vielfalt der Schriften? Gab es eine Urschrift? Wer schuf sie? Die Frage nach dem Ursprung ihrer Schriftsysteme beschäftigte die Menschen bereits im Altertum.

Heute wissen wir: Schrift ist eine junge Erfindung. Erst seit 5300 Jahren verwendet der Mensch sie in größerem Umfang. Die Bedingungen eines solchen Anfangs kann man zum Beispiel im Alten Orient studieren: Im südlichen Zweistromland wurde etwa um 3300 v. Chr. mit der Keilschrift ein Schriftsystem entwickelt, das zunächst vor allem im Rahmen der staatlichen Ökonomie genutzt wurde. Die ältesten bekannten Texte des Zweistromlandes fanden sich in der Stadt Uruk in Schuttschichten, die um 3300/3200 v. Chr. datiert werden. Es handelt sich um kleine rechteckige Täfelchen aus ungebranntem Ton, in die mit einem spitzen Griffel – vermutlich aus Schilf – Schriftzeichen geritzt wurden. Einige dieser Zeichen sind stark bildlich, ihre Bedeutung lässt sich mehr oder weniger unmittelbar ablesen: Es handelt sich um Zeichen für verschiedene Tierarten und landwirtschaftliche Erzeugnisse aller Art, etwa für Schaf, Ziege, Schwein, Esel, Fisch, Getreide, Milch, Hülsenfrüchte und Wolle, aber auch für Sekundärerzeugnisse wie Bier, Textilien und anderes mehr. Über die Gründe für die Einführung der Schrift in die Verwaltung der hoch entwickelten Agrarkultur des frühen Mesopotamien kann man nur spekulieren: Die zunehmende Komplexität der Verwaltungsvorgänge angesichts einer hohen Bevölkerungsdichte und die Notwendigkeit, die vorhandenen Ressourcen bestmöglich zu nutzen, haben vermutlich eine entscheidende Rolle gespielt. Dies war der Beginn einer mehrere tausend Jahre währenden Schriftkultur, von der noch heute Zehntausende Keilschrifttafeln Zeugnis ablegen.

Von besonderem Interesse ist die Frage, wie es überhaupt zur Erfindung eines solch machtvollen Instruments kommen konnte. Wer einmal versucht hat, selbst eine Schrift zu erfinden, weiß um die Schwierigkeiten: Welcher Art sollen die Zeichen sein, will man Worte, Silben oder Laute kodieren? Was muss die Schrift leisten, wie viele Personen sollen sie nutzen, womit soll geschrieben werden? Hinzu kommt, dass das Erfinden einer Schrift unter heutigen Bedingungen nicht vergleichbar ist mit einer Erst-Erfindung. Schließlich kann man auf eine Vielzahl von Schriftsystemen und damit auf Erfahrungen mit Schrift zurückgreifen.

Es war gerade in frühen Gesellschaften nicht selbstverständlich, dass solche frühesten Schrift-Ingenieure vom unmittelbaren Erwerb des Lebensunterhalts freigestellt wurden. Dies setzte nicht nur ein gewisses Maß an Überschuss-Wirtschaft voraus, sondern auch einen gesellschaftlichen Bedarf an den hier entwickelten Dienstleistungen. Entscheidender Vorteil war die Möglichkeit, Informationen außerhalb des menschlichen Gedächtnisses dauerhaft und reaktivierbar zu speichern. Voraussetzung dafür war das Funktionsprinzip der Spur, die Fähigkeit, sprechende Zeichen zu hinterlassen und diese wiederum zu lesen. Doch im Weiteren mussten sich die Nutzer dieses Systems über Formen und Inhalte der Zeichen verständigen und gegebenenfalls ihre weitere Entwicklung befördern. Eine besondere Rolle spielte dabei die Verbindung von Sprache und Schrift. Alphabetschriften und Wortschriften machten sich dabei sehr unterschiedliche Techniken des Systems zunutze, sie hatten allerdings Vor- und Nachteile.

Die Fähigkeit, Schrift umfassend zu nutzen, also lesen und schreiben zu können, ist auch heute keineswegs selbstverständlich. Es handelt sich schließlich nicht um eine angeborene Fähigkeit, sondern um eine erworbene. Sie zu erlernen ist nicht einfach. Bewusst wird dies typischerweise dann, wenn die Fähigkeit zu schreiben unzureichend oder gar nicht ausgebildet ist oder wenn ihre Bedingungen infrage gestellt werden: Die weltweiten Bemühungen um die Steigerung des Alphabetisierungsgrades, die Orthographie-Reform, die Ergebnisse von PISA-Studien, die Entstehung digitaler Schrifträume und das immer wieder postulierte Ende der Gutenberg-Galaxis machen die Bedeutung von Schrift und Schriftlichkeit für viele moderne Gesellschaften offenkundig. Dabei wird deutlich: Schrift ist nicht nur eine komplexe Kulturtechnik, sie bedarf auch eines hohen Maßes an gesellschaftlichem Konsens. Es müssen eine ganze Reihe an Bedingungen zusammenkommen, damit die Erfindung und Einführung eines Schriftsystems Erfolg hat. Wie dies unter den Bedingungen des ausgehenden vierten Jahrtausends v. Chr. möglich war, ist bis heute ein Rätsel.

Und noch in anderer Hinsicht sind solche Zeugnisse für die ersten Anfänge von Schrift von einigem Interesse: Die Schriftfähigkeit gilt als Spezifikum des Menschen, und den kognitiven Bedingungen des menschlichen Gehirns wird bei der Ausbildung dieser Fähigkeit eine Schlüsselstellung zuerkannt. Welche Rolle spielen diese Bedingungen bei der Erfindung und vor allem der anschließenden Entwicklungsprozesse von Schriftsystemen? Ein erheblicher Teil der Schriftentwicklung war und ist bedingt durch Optimierungsprozesse, durch Versuche, das System an neue Gebrauchsweisen, neue Schreibmaterialien und neue Schreibsysteme anzupassen; man denke zum Beispiel an die Buchstaben unserer Schreibschrift, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts erheblich verändert haben.

Doch sind es allein die Schreib- und Lese-Ergonomie, die diese Prozesse steuern, wie man lange Zeit annahm? Die Ergebnisse der Schreib- und Leseforschung deuten darauf hin, dass tatsächlich der Anteil des kognitiven Apparates sehr viel größer ist. Der Prozess der Stabilisierung und Optimierung des Zeichenrepertoires und der Schreibsystematik, wie er in der Schriftentwicklung der mesopotamischen Keilschrift so anschaulich wird, ist entscheidend für den Erfolg der Technik.

Am Institut für Altorientalistik an der Freien Universität Berlin hat die Erforschung dieser frühesten Bedingungen von Schrift lange Tradition. Dabei geht es nicht nur um die konkrete Entzifferung dieser ältesten Texte, sondern auch um Fragen nach den anthropologischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen von Schriftlichkeit. Im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Graduiertenkollegs „Schriftbildlichkeit“, das im vergangenen Herbst seine Arbeit aufgenommen hat, werden diese Fragen untersucht, vor allem aber die nichtsprachlichen Aspekte von Schrift in einer multidisziplinären Perspektive.

Die Autorin ist Professorin für Altorientalistik an der Freien Universität Berlin