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Ein europäischer Komponist

Am 14. April jährt sich der Todestag des Komponisten Georg Friedrich Händel zum 250. Mal

Halle an der Saale ehrt seinen berühmten Sohn seit 1922 mit den Händel-Festspielen. Die Schirmherrschaft in diesem Jahr haben Queen Elizabeth II. und Bundespräsident Horst Köhler inne.

Halle an der Saale ehrt seinen berühmten Sohn seit 1922 mit den Händel-Festspielen. Die Schirmherrschaft in diesem Jahr haben Queen Elizabeth II. und Bundespräsident Horst Köhler inne.
Bildquelle: Horst Fechner

Von Frédéric Döhl

Das 19. Jahrhundert hat viele Denkfiguren hervorgebracht, die noch heute das Meinungsbild über Musik maßgeblich bestimmen. Jenes Zeitalter, das kulturell bis zum Ersten Weltkrieg reichte, trennt uns dabei in vielfacher Hinsicht von Händel und seiner Epoche. Unter anderem war es in Europa eines, für welches die Kategorie des Nationalen eine zentrale Rolle spielte. Moderne Staaten wie Deutschland oder Italien konstituierten sich nach langem Ringen überhaupt erst. Diese politischen Prozesse zu befördern, wurde nicht nur mit den Mitteln von Diplomatie und Militär versucht: Im Kampf um das Nationale wurde auch das kulturell Verbindende eingesetzt. Für den deutschsprachigen Kulturraum nahm die Musik dabei eine besonders prominente Stellung ein, da sie auf diesem Feld weithin besonders leistungsfähig schien. Hier sah man ein Aushängeschild, von dem man sich identitätsstiftende Wirkung erhoffte. Das hieß, dass es alles, was für bedeutend befunden und für die eigene Sache als reklamierbar angesehen wurde, auch zu beanspruchen galt. Auch Georg Friedrich Händel, dessen Todestag sich am 14. April zum 250. Mal jährt, war von diesem Anspruch betroffen. In Deutschland manifestierte sich dies etwa in der Gründung der Händel-Gesellschaft 1856 und dem Beginn der ersten Gesamtausgabe seiner Werke durch Friedrich Chrysander.

Eine Beschäftigung mit Händel, wie sie das diesjährige Jubiläum wieder mit zahlreichen Veranstaltungen und Publikationen befördert, rückt diesen Aspekt stets unmittelbar in den Vordergrund. Bei kaum einem anderen Komponisten wurde um die nationale Vereinnahmung stärker gerungen als bei Händel. Bei ihm wurde umso hartnäckiger gefochten, weil es objektive Umstände zu interpretieren galt: 1685 wurde er in Halle an der Saale als Deutscher geboren. 1759 verstarb er in London als britischer Staatsangehöriger. 1712 hatte er sich dort dauerhaft niedergelassen, 1727 dann den formalen Status als Brite mit Beschluss des britischen Parlaments erlangt. War er Deutscher? War er Brite?

Es wäre zu wünschen, dass dergleichen Debatten keine Rolle mehr spielen, da eine Antwort musikalisch gesehen keine Rolle spielt. Und Musik hat Händel doch zuvorderst hinterlassen. Aber dem ist nicht so. Österreichische Medien protestieren etwa heute noch regelmäßig, wenn im nördlichen Nachbarland Mozart vereinnahmt wird. Dort ist dieser Impuls nach wie vor erstaunlich lebendig, man denke etwa an die ZDF-Sendung, die Mozart einreihte in „Unsere Besten - Wer ist der größte Deutsche?“. Vor dem Hintergrund derselben Beweggründe haben es Komponisten und Musiker wie Eugen d’Albert, Ferruccio Busoni, Franz Liszt, George Onslow, André Previn und Igor Strawinsky in der Rezeption oft schwer gehabt. Sie passen, so scheint es, nur schwerlich in dieses problematische Raster. Ihre Biografien waren wie jene Händels multinational oder ihr Wirken kosmopolitisch. Die Einordnung ist heikel, ihre kulturhistorische Tradierung nicht klar.

Dem Fall Händel kommt insoweit exemplarischer Status zu. Äußerungen wie die von Rudolf Steglich sind typisch. Dieser erklärte Händel 1925 in der „Zeitschrift für Musik“ zum „zeitgemäßen Engländer soweit, als es eben in seinem unzeitgemäßen Deutschtum lag. England wurde sein Wirkungsfeld, ohne dass er seiner geistigen Heimat, seinem Deutschland untreu wurde“. Die Unterschiede in der Stoßrichtung zur nationalen Vereinnahmung sind dabei zwischen Autoren der monarchischen, diktatorischen und demokratischen deutschen Staaten erstaunlich marginal. Denn stets ist der Tenor nicht etwa „Händel ist unser aller“, sondern „Händel ist unser, nicht euer“. So war etwa 1955 im zentralen Fachorgan der DDR „Musik und Gesellschaft“ zu lesen: „Die schönen Tage der Händelfestspiele haben uns aufs Neue bestätigt, dass unter den Bedingungen der Arbeiter-und-Bauern-Macht in der DDR das kulturelle Erbe, das die Bourgeoisie preisgab und zerflattern ließ, in großzügigster Weise erhalten und gepflegt wird, wodurch erstmals in Deutschland die Musik Händels Eigentum des ganzen Volkes werden kann.“

„English composer of German birth“ heißt es im Händel-Artikel der internationalen Standardenzyklopädie „New Grove Dictionary of Music and Musicians“. Diese ebenso elegante wie historisch zutreffende Beschreibung gibt den biografischen Verlauf präzise und neutral wieder: Geboren als Deutscher, verstorben als Brite. Schon angesichts dessen mutet der ebenso alte wie bis heute nicht gänzlich verebbte Streit um Händels nationale Zuordnung, an dem sich auch die britischen Medien rege beteiligten, unhistorisch an. Der Bruch in der Perspektive wird durch den Geist des 19. Jahrhunderts befördert, der wie eine Wasserscheide zwischen der Gegenwart und der Zeit Händels liegt. Jenes Denken spielte im 18. Jahrhundert für viele in der Musik eine weit geringere Rolle. Die musikalische Kunst jener Ära schlechthin war die Oper. Sie gedieh schon seinerzeit in einem europäisierten Markt zwischen London und St. Petersburg, Paris, Wien und Neapel. Ihre Sprache war zuvorderst Italienisch, die Händel für seine Werke ebenso gebrauchte wie die deutsche, englische, französische oder lateinische – in musikalischer Hinsicht war man ohnehin europäisch gesinnt. In Händels Zeitalter dachte man anders und war damit in mancherlei Hinsicht dem, was wir heutzutage mit der europäischen Integration versuchen, weitaus näher, als man es viele Generationen danach gewesen ist. Treffend bemerkte Carl Dahlhaus 1985: „Niemand zweifelte an der Tatsache, dass Jean Baptiste Lully, ein geborener Italiener, der Begründer des französischen Stils war; und Johann Adolf Hasses italienische Schreibweise als ,nicht authentisch‘ zu empfinden, kam weder einem italienischen noch einem deutschen Kritiker in den Sinn.“ 1922 hatte Hugo Riemann dagegen noch die alte, bis heute anzutreffende Charakterisierung bemüht: „Freilich sein Deutschtum kann ihm niemand rauben, so gern auch die Engländer ebenso Händel zu einem ganzen Engländer stempeln möchten, wie die Franzosen den Italiener Lully zu einem Franzosen.“

Sucht man nach Personen unserer Kulturgeschichte, an deren Wirken sich unter dem Gesichtspunkt einer europäischen Identität, um die wir heute ringen, anknüpfen ließ, so erinnert Händels 250. Todestag daran, dass die Musikgeschichte des 18. Jahrhunderts bereits in vielerlei Hinsicht eine jenseits des Nationalen war.

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des musikwissenschaftlichen Projekts im Sonderforschungsbereich 626 Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste an der Freien Universität.