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Glaube und Vernunft

Die Islamwissenschaftlerin Sabine Schmidtke erschließt islamische Quellen des Mittelalters

Verloren geglaubtes und wiederentdecktes Dokument: das Fragment eines Kommentars eines mu’tazilitischen Autors aus dem 11. Jahrhundert zu einem theologischen Text.

Verloren geglaubtes und wiederentdecktes Dokument: das Fragment eines Kommentars eines mu’tazilitischen Autors aus dem 11. Jahrhundert zu einem theologischen Text.
Bildquelle: Repro FU

Von Kerrin Zielke

„Die heutigen Grenzen entlang von Politik und Religion im Nahen Osten waren im Mittelalter nicht denkbar“, sagt Sabine Schmidtke, Professorin für Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Damals pflegten im Nahen Osten – seit Jahrzehnten eine der größten Konfliktzonen der Gegenwart – muslimische, jüdische und christliche Gelehrte einen intensiven intellektuellen Austausch. Sie hatten eine gemeinsame Sprache, Arabisch und zum Teil Persisch, und rezipierten die gleichen theologischen, philosophischen und wissenschaftlichen Schriften.

Dieser Austausch trug zur Blüte der islamischen Welt bei – die bis nach Spanien reichte – zwischen dem 8. und 13. Jahrhundert. Muslimische Wissenschaftler waren weltführend in Medizin, Astronomie und Mathematik. Es ist das Verdienst von muslimischen Gelehrten, das philosophische Erbe der griechischen Antike über das Mittelalter hinaus bewahrt und kommentiert zu haben. Zu jener Zeit entwickelten muslimische Geistliche eine rationalistische Theologie von immenser Ausstrahlung. Der Vernunft kommt in dieser Tradition bei der Interpretation islamischer Grundsätze der Vorrang zu. Grundlegende Schriften dieser Tradition waren lange vergessen – und scheinbar verloren. Sie wurden im 19. und 20. Jahrhundert wiederentdeckt, seit den 1960er Jahren erst aufgearbeitet. Noch sind viele der Handschriften unerschlossen.

Sabine Schmidtke arbeitet daran, neue Quellen zu heben, zu bearbeiten und zu edieren. Für ihr Projekt der Grundlagenforschung „Wiederentdeckung des theologischen Rationalismus in der islamischen Welt des Mittelalters“ hat die Professorin vom Europäischen Forschungsrat jüngst 1,86 Millionen Euro zuerkannt bekommen, die sie innerhalb von fünf Jahren für ihre Studien verwenden kann. Ihr Antrag wurde als einer von 44 unter mehr als 400 eingereichten Skizzen ausgewählt.

„Die rationalistische Theologie kann nicht entlang von Religionsgrenzen aufgearbeitet werden“, sagt Sabine Schmidtke. Deshalb will sie die muslimische, jüdische und christliche Theologie im arabischen Sprachraum gemeinsam in den Blick nehmen. Eine einflussreiche rationalistische Denkschule innerhalb der islamischen Theologie war die Mu’tazila, deren Anfänge im 8. Jahrhundert liegt. Ein grundlegender Gedanke war, dass der Koran nicht ewig, sondern von Gott für eine bestimmte Zeit geschaffen sei. Zwar wurde die Schule im sunnitisch geprägten Raum über die Jahrhunderte zurückgedrängt, doch ist ihr Einfluss auf den shiitischen Islam bis heute erkennbar. Seit dem 9. Jahrhundert eigneten sich jüdische Gelehrte das Denken so stark an, dass selbst Wissenschaftler heute nicht immer auf Anhieb erkennen können, ob eine Schrift jüdischer oder muslimischer Herkunft ist. Auch die christliche Theologie in Europa wurde durch Übersetzungen aus arabischer Sprache ins Lateinische beeinflusst.

An der Aufarbeitung der Schriften arbeitet Sabine Schmidtke grenzübergreifend: So forscht sie in Projektgruppen gemeinsam mit Kollegen unter anderem aus dem Jemen, dem Iran und Israel. Das Anliegen gehe über die reine Wissenschaft hinaus, sagt die 44-Jährige: „Menschen zusammenzuführen, die sonst durch politische Grenzen getrennt wären.“