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Chinesisch lehren lernen

Auch chinesische Kinder brauchen mindestens sechs Jahre Unterricht, um eine chinesische Zeitung lesen zu können.

Auch chinesische Kinder brauchen mindestens sechs Jahre Unterricht, um eine chinesische Zeitung lesen zu können.
Bildquelle: istockphoto

Sinologen der Freien Universität fordern neuen Studiengang

Von Oliver Trenkamp

Immer mehr deutsche Schüler wollen Chinesisch lernen, doch es fehlt an Konzepten und Lehrern. Abhilfe schaffen will der Fachverband Chinesisch mit der Tagung „Chinesisch – eine Herausforderung für den Fremdsprachenunterricht“. Die Veranstaltung findet vom 25. bis 27. September an der Freien Universität statt und wird vom dortigen Konfuzius-Institut unterstützt. Erwartet werden über 100 Fachwissenschaftler und Lehrer aus Deutschland, Europa und China.

Sie müssen fleißiger sein, mehr lernen, die Schüler von Frau Wu. Sie pauken jetzt sogar Spezial-Vokabeln: „lunyi“ für Rollstuhl oder „jiangpai“ für Medaille. Im September fahren nämlich einige von ihnen zu den Paralympics nach Peking, zusammen mit anderen Berliner Schülern: Sie berichten über die Olympischen Spiele der Menschen mit Behinderung, sie schreiben für das offizielle Magazin der Spiele – ein Projekt, an dem auch der Tagesspiegel beteiligt ist. Und beim Recherchieren hilft es natürlich, die Sprache zu beherrschen.

Es ist auch das Verdienst von Jiang Wu, dass es überhaupt Schüler in Berlin gibt, die sich auf Chinesisch verständigen. Sie gehört zu den ersten Lehrern in Berlin, die das Fach unterrichten. Im November 2003 saßen in ihrem Kurs an der Humboldt-Oberschule in Tegel gerade mal 15 Schüler – es war die erste Unterrichtsstunde im Wahlpflichtfach Chinesisch an einem Berliner Gymnasium überhaupt, vorher gab es nur Chinesisch-Arbeitsgemeinschaften. Heute entscheiden sich jedes Jahr knapp 75 Neuntklässler der Humboldt-Schule für das Fach; hinzu kommen noch knapp 200 Schüler von anderen Schulen. Die asiatische Sprache mit den geschwungenen Schriftzeichen ist Prüfungsfach im Abitur, ein zusätzlicher Lehrer wurde eingestellt. Die Schüler seien begeistert, sagt Frau Wu, deren Muttersprache Chinesisch ist, sie kämen aus ganz unterschiedlichen Gründen: Weil sie einen asiatischen Kampfsport betreiben und die Schriftzeichen verstehen wollen; weil sie Chinesisch spannender finden als Französisch; weil sie sich schon in jungen Jahren einen Karrierevorteil versprechen.

Immer mehr Eltern und Schüler in Deutschland interessieren sich für die Sprache, aber es fehlt an Lehrern und didaktischen Konzepten. „Zwar wird an rund 120 Schulen in Deutschland Chinesisch als Fremdsprache unterrichtet, doch meist nur im Rahmen einer Arbeitsgesmeinschaft, nur in etwa 25 Schulen gibt es das Fach als Wahlpflichtfach“, sagt Andreas Guder. Er leitet den Studienbereich chinesische Sprache an der Freien Universität und ist zudem Vorsitzender des Fachverbands Chinesisch, einer wissenschaftlichen Vereinigung, die sich seit 24 Jahren bundesweit dafür einsetzt, fachlich fundierten Chinesisch-Unterricht in Schule und Hochschule zu fördern. In neun Bundesländern gibt es schon einen Lehrplan für Chinesisch in den Sekundarstufen I und II, der erste wurde 1992 in Nordrhein-Westfalen entwickelt. Der Berliner Lehrplan stammt aus dem Jahr 2006, zähle aber zu den Besten, sagt Guder. Zu häufig jedoch sei die Einführung des Fachs abhängig von Zufällen und von engagierten Einzelkämpfern wie Frau Wu. „Eine AG ist ein toller und wichtiger Anfang, um Interesse an der Sprache zu wecken, aber um Chinesisch endgültig als Schulfach zu etablieren, brauchen wir unbedingt eine strukturierte und durchdachte Lehrerausbildung“, sagt Guder. Bisher unterrichten meist deutsche Sinologen das Fach oder chinesische Akademiker, die sehr gut Deutsch sprechen. Ausgebildete Chinesisch-Lehrer gibt es aber kaum.

Deren Ausbildung müsste sich Guder zufolge auch in mancher Hinsicht von derjenigen für andere Fremdsprachen-Lehrer unterscheiden; vor allem, weil Chinesisch für Deutsche so viel schwerer zu lernen ist – das Erreichen bestimmter Kompetenzstufen dauert etwa doppelt so lange wie bei einer europäischen Fremdsprache, schätzt Guder. Da ist zum einen die „linguistische Distanz“: „Im Vergleich zum Chinesischen sind Russisch, Deutsch und Französisch einander relativ ähnliche Sprachen“, sagt Guder. Allein die unterschiedlichen Betonungen zunächst gleich klingender Wörter erforderten vom ungeschulten Lerner höchste Konzentration. Das bekannteste Beispiel ist das Wort „Wen“, das wie „uen“ klingt: Je nach Zungenschlag heißt es „Frage“ oder „Kuss“. Bei im Grunde keinem Wort lässt sich auf vertraute Elemente bereits gelernter Sprachen zurückgreifen.

Zur sprachlichen Fremdheit kommen die kulturellen Unterschiede: Nicht nur in der Sprache selbst, auch hinsichtlich der Wertvorstellungen und Verhaltensregeln gibt es ungeahnte Unterschiede. Wer das nicht weiß oder sich nicht den gesellschaftlichen Regeln entsprechend verhält, dem wird es schwerfallen, erfolgreich zu kommunizieren. So kann es in China unangemessen wahrgenommen werden, sich für etwas zu bedanken. „Wenn ich mich ausdrücklich und wortreich bedanke, versteht man in China womöglich, dass ich die Sache damit als erledigt betrachte und ich mich für einen Gefallen nicht mehr revanchieren muss“, sagt Guder. „Wer sich jedoch nicht überschwänglich bedankt, bewahrt sich auch im Auge des Gegenübers die Gelegenheit, sich später erkenntlich zu zeigen.“

Natürlich erfordert es ungleich mehr Fleiß und Disziplin, eine Schrift zu erlernen, die aus mehreren tausend Einzelzeichen besteht. Knapp 250 Elemente stehen für bestimmte Wortfelder – das Zeichen für „Pferd“ beispielsweise ähnelt entfernt sogar dem Tier, mit ein bisschen gutem Willen lassen sich vier Beine, Kopf und Mähne erkennen. Hinzu kommen etwa 2000 phonographische Symbole, die jeweils für eine Silbe oder einen Laut stehen. Und wenn beide miteinander kombiniert werden, wird aus einem „Pferd“ schnell ein „Betrüger“ oder das Verb „reiten“. „Bei dieser Komplexität kann man nicht erwarten, dass ein deutscher Abiturient nach drei Schuljahren eine chinesische Zeitung fließend lesen kann“, sagt Guder, „um das zu können, brauchen selbst chinesische Kinder mindestens sechs Jahre Unterricht.“ Deshalb plädieren er und Mechthild Leutner, Sinologie-Professorin an der Freien Universität, dafür, einen Lehramtsstudiengang einzuführen, der sich an der Schnittstelle von Sprach-, Kultur- und Erziehungswissenschaften mit Inhalten und Vermittlungsmethoden des Chinesischen auseinandersetzt.

Um darüber zu diskutieren, veranstaltet der Fachverband Chinesisch in diesem Jahr an der Freien Universität eine Tagung mit dem Titel: „Chinesisch – eine Herausforderung für den Fremdsprachenunterricht“. Unterstützt wird die Tagung vom Konfuzius-Institut, das 2006 als erstes seiner Art an der Freien Universität Berlin eröffnet wurde, um die Kenntnis chinesischer Sprache und Kultur zu fördern. Vom 25. bis zum 27. September treffen sich mehr als 100 Fachwissenschaftler und Lehrer aus Deutschland, Europa und China und sprechen darüber, in welchen Ländern und mit welchem Erfolg Chinesisch bereits als Fremdsprache etabliert ist; sie beraten darüber, wie sich Computer sinnvoll zum Lernen nutzen lassen; sie debattieren, welche Rolle kulturelle Unterschiede spielen; und sie erarbeiten Konzepte, wie der Chinesisch-Unterricht und die Lehrerausbildung verbessert werden können.

Denn das Interesse an der Sprache, die mehr als 1,2 Milliarden Menschen sprechen, wird weiterhin zunehmen, davon ist Guder überzeugt. Schon jetzt sei Chinesisch die zweitgrößte Sprache im Internet: „Online entsteht da ein Wissens- und Erfahrungsschatz, ein riesiges Diskussionsforum, das im Westen so gut wie nicht wahrgenommen wird“, sagt er. Ein weiterer wichtiger Aspekt in diesem Sinne sei beispielsweise der Schüleraustausch mit China. Die Organisation sei zwar aufwendig, aber eine große Bereicherung.

Auch hier geht das Humboldt-Gymnasium mit gutem Beispiel voran: Bevor die Schüler von Frau Wu jetzt nach Peking reisen, war eine Gruppe chinesischer Schüler in Berlin. Schon seit 2004 gibt es ein Austauschprogramm mit einer „Middleschool“ in Peking.