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Mit Grüntee-Extrakt gegen Multiple Sklerose

An der Charité wird hochmoderne Technik zur Diagnose eingesetzt.

An der Charité wird hochmoderne Technik zur Diagnose eingesetzt.
Bildquelle: Dahl

Im Exzellenzcluslerter "Neurocure" gehen Wissenschaftler neue Wege in der Therapie neurologischer Erkrankungen

von Christa Beckmann

Die Freie Universität Berlin ist im Exzellenzwettbewerb des Bundes und der Länder auf ganzer Linie erfolgreich gewesen. In einer Artikelreihe stellen wir dieals besonders förderungswürdig bewerteten Wissenschaftsprojekte näher vor. Heute berichten wir über den Cluster „Neurocure – neue Perspektiven in der Therapie neurologischer Erkrankungen“, ein Projekt mit der Humboldt-Universität und der Charité – Universitätsmedizin Berlin, der gemeinsamen Fakultät der Freien Universität und der Humboldt-Universität. 

Es hat alles ganz harmlos angefangen damals, Mitte der neunziger Jahre. Hans Richter* geht zum Orthopäden, weil er ein leichtes Taubheitsgefühl im linken Bein verspürt. „Der Arzt meinte, es könnte ein eingeklemmter Nerv sein und hat mir Krankengymnastik verschrieben“, erinnert sich der heute 38-Jährige. Die Therapie scheint zu greifen. Das dumpfe Gefühl im Bein verschwindet. Ein paar Monate später kehrt das Taubheitsempfinden  zurück. Dieses Mal in den Händen, den Füßen, am Rücken, am Bauch. „Und ich fing an, Doppelbilder zu  sehen“, sagt Hans Richter. Im Universitätsklinikum  Benjamin Franklin der Freien Universität Berlin stellen die  Ärzte „eine entzündliche Erkrankung des  Zentralen Nervensystems“ fest. Die exakte Diagnose erhält er erst ein Jahr  später, nach einem neuerlichen Krankheitsschub mit extremen Empfindungs- und Gleichgewichtsstörungen: Multiple Sklerose, kurz MS genannt.

Damals schreibt Hans Richter gerade an seiner Diplomarbeit. Er studiert Betriebswirtschaftslehre, will sich eine Zukunft  aufbauen. Den Schock kann er bis heute nur schwer in Worte fassen: „Ich war total verunsichert. Über  Multiple Sklerose wusste ich so gut wie nichts.“ Hans  Richter surft im Internet, informiert sich in Fachbüchern und bei Selbsthilfe-  Organisationen. Er erfährt, dass die Ursachen von Multipler Sklerose noch weitgehend ungeklärt sind, dass die Empfindungsstörungen  dadurch entstehen, dass das eigene Immunsystem des Körpers die Nerven angreift, dass die Krankheit in Schüben verläuft und dass sie für die Patienten im Rollstuhl enden kann – aber nicht muss. 
Heute versucht Hans Richter, sein Lebenso normal wie möglich zu führen. Der Diplom-Kaufmann arbeitet in Vollzeit und geht zwei Mal pro Woche ins Fitness- Studio. Die Abstände zwischen den Schüben sind größer geworden. Auch dank eines Medikamentes, das er sich jeden Morgen spritzen muss. Aber die Angst bleibt. Ebenso wie die Hoffnung, eines Tages ein Mittel zu finden, das die Krankheit stoppt oder sogar heilt. 

Hans Richter hat deshalb nicht lange  gezögert, als er in der Zeitschrift der Deutschen Multiple-Sklerose-Gesellschaft las, dass die Berliner Charité noch MS-Patienten in eine klinische Studie mit einem ganz besonderen „Medikament“ aufnimmt. Die Mediziner testen Grünen Tee als Therapie gegen Multiple Sklerose, oder genauer gesagt einen Wirkstoff aus der Teepflanze. Epigallocatechin- 3-Gallat heißt die Substanz, die den chronischen Entzündungsprozess im zentralen Nervensystem stoppen soll.

Ergebnisse aus der Forschung schneller in der Praxis anwenden

Die Studie ist Teil eines groß angelegten, interdisziplinären Forschungsverbundes von Charité-Medizinern, Wissenschaftlern der Freien Universität, der Humboldt-Universität sowie außeruniversitären  Forschungseinrichtungen mit dem Ziel, neue Wege in der Therapie neurologischer Erkrankungen zu entwickeln. 
Im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder ist die Forschungsoffensive unter dem Namen „Neurocure“ als besonders förderungswürdig ausgezeichnet worden. Mit rund 35 Millionen Euro werden die Arbeiten der Wissenschaftler in den kommenden fünf Jahren unterstützt.
„Wir wollen die Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung schneller und besser in klinisches Handeln übertragen“, beschreibt  Charité-Professor Dietmar Schmitz, einer der drei geschäftsführenden Direktoren des Clusters, das Ziel. Dabei konzentrieren sich die Wissenschaftler vorrangig auf drei Bereiche: Gefäßerkrankungen des Gehirns wie Schlaganfall, Entwicklungsstörungen des Zentralen Nervensystems – unter anderem Epilepsie – und entzündliche Erkrankungen, wie Multiple Sklerose.

„Diese Krankheiten haben mehr Mechanismen gemeinsam als bisher angenommen“, sagt Schmitz. So zeigten neuere Studien, dass Entzündungsprozesse nicht nur bei der Entstehung von Multipler Sklerose eine Rolle spielten, sondern vermutlich auch die Folgen nach einem Schlaganfall kritisch beeinflussen. „Umgekehrt wissen wir erst seit kurzem, dass es bei entzündlichen neurologischen Erkrankungen wie der Multiplen Sklerose auch zum Verlust ganzer Nervenzellen und nicht nur – wie bisher angenommen – einer  Schädigung der Schutzhüllen um die Nervenfasern kommt“, ergänzt Professor Frauke Zipp. Die Wissenschaftliche Direktorin der Cecilie- Vogt-Klinik für Neurologie im Helios- Klinikum Berlin-Buch (Charité- Universitätsmedizin Berlin) leitet auch die klinische Studie, an der Hans Richter teilnimmt. „Im Tierversuch und  in Kulturen von menschlichen Immun- und Nervenzellen hat sich gezeigt, dass der Extrakt aus dem Grünen Tee entzündungshemmend wirkt und die Nervenzellen vor dem Absterben schützt“, sagt die  Neurologin. 

Ein Mal im Monat muss Hans Richter – wie die anderen Studienteilnehmer – zur Kontrolle in die Charité kommen. Alle drei Monate wird sein Körper zusätzlich eingehend neurologisch gecheckt, inklusive  Blutabnahme, Konzentrations- und Bewegungstests. Halbjährlich finden kernspintomographische Untersuchungen des Gehirns statt. Hans Richter nimmt die Strapazen gern auf sich, obwohl weder er noch sein behandelnder Arzt wissen, wer zu der Hälfte der Studienteilnehmer  gehört, die ein Placebo bekommt. Die sogenannte Doppelblind-Studie ist Voraussetzung für ein objektives  Studienergebnis. Nur eins macht Hans Richter zu schaffen: „Wenn mir jetzt jemand eine Tasse grünen Tee anbietet, muss ich ablehnen. Dabei trinke ich den Tee sehr gern.“ Der zusätzliche Konsum könnte das Studienergebnis verfälschen, begründet Oberarzt Friedemann Paul das Teeverbot: „Denn die Patienten erhalten eine genau abgemessene Menge der Substanz Epigallocatechin-3-Gallat in Kapselform.“

In Berlin entsteht ein europaweit einmaliges klinisches Zentrum

Das Geld aus der Exzellenzinitiative gebe der Medizin die Möglichkeit für eigene klinische Studien, sagt Paul: „Bislang werden Studien aufgrund der erheblichen Kosten und des immensen bürokratischen Aufwandes fast ausschließlich auf Initiative der Industrie durchgeführt, die natürlich immer auch ein kommerzielles Interesse im Hinblick auf die Zulassung und Patentierung eines neuen Medikamentes hat. Deshalb gibt es für viele Substanzen wie den Grünen-Tee-Extrakt, die therapeutisch vielversprechend, aber im Endeffekt finanziell  nicht so einträglich sind, bisher keine klinischen Prüfungen.“

Zum schnellen Umsetzen von Erkenntnissen aus der neurobiologischen Grundlagenforschung  in die klinische Anwendung haben die Berliner Wissenschaftler ein bisher europaweit einmaliges klinisches  Forschungszentrum gegründet. Geplant sind 15 Arbeitsgruppen, in denen Kliniker und Grundlagenwissenschaftler aus ganz unterschiedlichen Disziplinen Hand in Hand arbeiten – auf kurzen  Wegen, mit flachen  Hierarchien und sehr niedrigen bürokratischen Hürden. Ein großes Berufungssymposium im Frühjahr soll helfen, für zwölf ausgeschriebene Professuren junge Spitzen-Wissenschaftler aus aller Welt zu gewinnen. Zehn bis 15  Top-Studenten aus verschiedenen Fachrichtungen  werden außerdem jedes Jahr die Möglichkeit erhalten, in dem internationalen Studiengang „Medical Neurosciences“ zu promovieren. 

Über alle Fachrichtungen hinweg arbeiten die Neurocure-Wissenschaftler an gemeinsamen Zielen: Sie wollen nicht nur erforschen, durch welche Mechanismen  genau die Nervenzellen geschädigt werden und wie man sie schützen und möglicherweise  regenerieren kann. Sie untersuchen  auch, welche Wechselwirkungen es zwischen Nerven- und Immunsystem gibt und wie das Nervensystem aus Erfahrung lernt. Denn dass es lernen kann, ist unbestritten.
„Das Gehirn hat die Möglichkeit, auf äußere Reize plastisch zu reagieren“, erläutert Professor Dietmar Kuhl vom Institut für Biologie an der  Freien Universität Berlin. „Wenn beispielsweise  Informationen über lange  Zeit abgespeichert werden, verändern  sich die Kontaktstellen für die Reizübertragung  zwischen den Nervenzellen, die sogenannten Synapsen.“ Im Zuge des Exzellenzclusters soll nun herausgefunden werden, welche Ursachen diesen Veränderungen zugrunde liegen und wie man die Plastizität verbessern kann, um Patienten  mit Nervenschäden gezielt helfen zu können. 

Das Land Berlin wird sich an dem Zukunftsprojekt mit der Finanzierung eines Forschungshaus-Neubaus, des sogenannten Neurocure-Tower auf dem Campus Charité Mitte, beteiligen. Partnerorganisationen wie das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin, das Leibniz- Institut für Molekulare Pharmakologie und das Deutsche Rheuma-Forschungszentrum Berlin steuern darüber hinaus mehr als vier Millionen Euro bei. 
Mithelfen im Kampf gegen Krankheiten wie Schlaganfall oder Multiple Sklerose – dieses Motiv hat auch Hans Richter angetrieben, an der Studie teilzunehmen: „Solche Forschungen müssen betrieben werden. Wenn es mir vielleicht auch nicht hilft, dann aber bestimmt irgendwann anderen.“ 
*Name von der Redaktion geändert 

Mehr im Internet:
www.neurocure.de
www.excellence-fu.de