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Was kommt nach dem 11. September?

Die Terroranschläge des Jahres 2001 in den USA haben die Alltagskultur Nordamerikas nachhaltig verändert

Von MaryAnn Snyder-Körber

Die Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September 2001 hatten international gravierende Folgen, wie den Krieg gegen den Terror in Afghanistan und im Irak sowie die Errichtung des Gefangenenlagers in der Guantanamo-Bucht. In den USA bestimmt seit Oktober 2001 das neu gegründete Heimatschutzministerium die terroristische Gefahrenlage und zeigt die Analyse in farbigen Alarmstufen an: von Grün für niedrig bis Rot für gravierend. Daneben gibt es jedoch noch eine weitere, auf den ersten Blick vielleicht befremdlich erscheinende Folge: die World-Trade-Center-Weihnachtskugel.

Die zerstörten Zwillingstürme als glitzernder Weihnachtsschmuck? Die Christbaumkugel mit dem Namen „Heroes All Ornament“ ist kein billiger Nippes, sondern das Ergebnis hochwertiger, traditioneller Glasbläserkunst. Neben diesem Schmuck könnten Heiligabend auch die „Brave Heart“-Weihnachtskugel (ein mit Sternen und Streifen dekoriertes Glasherz) oder die „America’s Finest“-Figur (ein pausbackiger Feuerwehrmann mit US-Fahne) am Edeltannenzweig baumeln, während unterm Baum „patriotische Geschenke“ wie Tagesdecken im Flaggendesign auf die Bescherung warten.

So leicht es auch wäre, sich über dieses Zusammentreffen von Nationalismus, Konsum und Kitsch zu mokieren – eine Geringschätzung des emotionalen Registers unseres Verständnisses der US-amerikanischen Kultur nach dem 11. September würde nicht weiterbringen, gibt Bill Brown von der University of Chicago auf einer im Sommer gehalten Tagung zum Thema „The Pathos of Authenticity: American Passions of the Real“ am John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien zu bedenken. Im Gegenteil: 9/11 und seine Folgen hätten gezeigt, dass eine Berücksichtigung der affektiven Dimension öffentlicher Diskurse des Politischen, aber auch des Kulturellen, unerlässlich ist, um den historischen Augenblick in den USA und seine „Sehnsucht nach dem Authentischen“ zu verstehen. Diesem Sehnen gingen die Wissenschaftler aus dem In- und Ausland in ihrer Auseinandersetzung mit zentralen Aspekten des kulturellen Lebens Nordamerikas nach: Von den viel diskutierten und inzwischen vielfach geänderten Plänen für die Neubebauung des World- Trade-Center-Geländes in New York City bis hin zur „Heroes All“-Weihnachtskugel am Christbaum daheim.

So absurd der Baumschmuck zunächst anmutet, er ist auch Ausdruck der vom Authentizitätsgedanken getragenen Kultur der nationalen Teilnahme und des Gedenkens. Durch ein Sammelstück wie den Zwillingsturm-Anhänger werde Trauer sichtbar, und der Einzelne könne an einem Ereignis von nationaler wie lokaler Bedeutung teilnehmen, argumentierte der Amerikanist Bill Brown. „Sammeln und Konsumieren erlauben so eine Partizipation in der öffentlichen Sphäre, die den Käufer sich als ,amerikanisch‘ fühlen lässt, indem er sich wie andere Amerikaner benimmt und besitzt.“

Erika Doss von der Notre Dame University in Indiana erweiterte die Analyse auf neue Stätten und Strategien des Gedenkens: Spätestens seit dem 11. September, so glaubt Doss, zeichnete sich eine „Denkmalmanie“ ab: von den spontanen Denkmälern, die nach den Anschlägen in Manhattan errichtet wurden, bis hin zu den ambitionierten Plänen für groß angelegte nationale Gedenkstätten auf dem World-Trade-Center-Gelände sowie in Shanksville im Bundesstaat Pennsylvania, wo der Flug 93 abstürzte.

Zwischen den kleinformatigen temporären „Altären“ und den ehrgeizigen Großprojekten sind aber auch zahlreiche kleinere Mahnmale entstanden, die oft fern der vom Terrorismus unmittelbar betroffenen Orte an der Ostküste zu finden sind. Auch kleinere Städte haben um Beton- und Stahlfragmente des World Trade Center ihre eigenen Monumente konzipiert. In solchen Gedenkstätten sehen Touristen nach Doss’ Einschätzung „authentische Ziele“, auch wenn hier kaum die sieben Millionen Besucher jährlich erreicht werden, die in New York nach Fertigstellung des „Reflecting Absence“-Mahnmals nebst angrenzendem „Freedom Tower“ erwartet werden. Für Doss sind die Mahnmale Teil einer amerikanischen „Denkmalmanie“. Sie stellt den Versuch dar, „Gedächtnis und Geschichte in der öffentlichen Kultur zu sichern“ und durch den Einsatz von vertrauten Symbolen wie Fahnen und Kindern eine neue Sicherheit nach einer Phase traumatischer nationaler Verunsicherung zu erreichen.

Es geht aber um viel mehr als um neue Tendenzen zum Lokalen und Persönlichen in der Denkmalkultur. Wie Tagungsorganisatorin Ulla Haselstein vom John-F.-Kennedy-Institut argumentierte, haben wir es mit einer grundlegenden Wende zu tun. In der nordamerikanischen Kultur zeichne sich „eine Abkehr von postmoderner Ironie und eine Rückkehr zu Denkfiguren des Authentischen“ ab. Solche „Gründungsfiguren“, die eine Orientierung in der Gegenwart und darüber hinaus versprächen, fanden die neu an die Freie Universität Berlin berufene Juniorprofessorin Bärbel Tischleder und ihre Kollegin Catrin Gersdorf in neueren Romanen wie Jonathan Franzens „The Corrections“. Diese Werke beschwören die Welt der Dinge und die Natur als Verkörperung einer „authentischen“ Realität herauf. Nach Ansicht der Amerikanistin Ruth Mayer aus Hannover werden nun sogar Konzepte wie Hybridität, die einst als Signum des postmodernen Spiels galten, in kritischen und kommerziell erfolgreichen literarischen Produktionen wie Richard Powers „The Time of Our Singing“ eingesetzt, um „Authentizierungseffekte“ zu erzeugen. In der Aneignung des historischen Leidens von Afroamerikanern und Juden in Fiktionen seit den 1950er Jahren sahen andere Tagungsteilnehmer wie die Ethnizität- und „Whiteness“-Forscherin Sabine Broeck von der Universität Bremen die Versuche einer authentisierenden Rechtfertigung für die „Beibehaltung oder Neuetablierung weißer Privilegien“.

Eine Tendenz zu Kontroversen um das „wirklich Authentische“ zeigte sich in den Auseinandersetzungen um eines der einprägsamsten Bilder des 11. Septembers: drei von einem Fotojournalisten abgelichtete Feuerwehrleute, welche die amerikanische Flagge vor den Ruinen des World Trade Center hissen. Das Foto sollte das Modell für eine bronzene Plastik zu Ehren der am 11. September ums Leben gekommenen Feuerwehrleute und Rettungssanitäter sein. Nur wollten die Denkmalplaner aus den drei weißen Feuerwehrmännern auf dem Foto eine multiethnische Gruppe aus je einem weißen, einem schwarzen und einem hispanischen „Helden“ schaffen. Gegner warfen den Planern „politische Korrektheit“ und „die Verfälschung von Geschichte“ vor, während der Mäzen und die Architekten den Wunsch, „alle Feuerwehrleute“ zu ehren, verteidigten.

Als Folge des in Internetblogs und im Gerichtssaal ausgetragenen verbalen Schlagaustausches wurden jedoch die Pläne für das Denkmal aufgegeben. Der Popularität des heroischen Feuerwehrmann-Trios tat dies aber keinen Abbruch. Man entdeckt es mittlerweile auf T-Shirts, Teddy-Bären, Snowboards, Porzellantellern und ebenso auf Weihnachtsschmuck, der auch 2007 für ein „authentisch“-patriotisches Fest der Liebe sorgen könnte.

Die Autorin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien der Freien Universität Berlin.

Weitere Informationen über die Tagung gibt es im Internet unter:
www.jfki.fu-berlin.de/faculty/literature.