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„Für uns war der Krieg noch lange nicht zu Ende“

Deportierte deutsche Zivilisten in der Sowjetunion: ein deutsch-russisches Forschungsprojekt

Von Ute Schmidt

Anfang 1945 war Waltraut S. 17 Jahre alt. Ihre Eltern besaßen einen Bauernhof in einem westpreußischen Dorf im Kreis Marienburg. Als die Rote Armee in die deutschen Ostprovinzen vorstieß, flüchteten die Dorfbewohner gen Westen. Sowjetische Truppen holten ihren Treck jedoch in Pommern ein und trennten Waltraut S. von ihrer Familie. Zusammen mit Jugendlichen aus ihrem Heimatdorf wurde sie verhaftet, von sowjetischen Offizieren verhört, mit weiteren 250 deutschen Zivilisten auf einem 14 Tage langen Marsch quer durch Pommern getrieben und schließlich in ein sowjetisches Arbeitslager bei Tscheljabinsk im Uralgebiet transportiert. Gut drei Jahre später wurde Frau S. im Juli 1948 entlassen; die Folgen der Haft spürt sie noch heute.

Alfred B. aus Danzig war 15 Jahre alt, als sowjetische Soldaten ihn, zusammen mit 2400 willkürlich in der Stadt aufgegriffenen Zivilisten, darunter 800 Frauen, in ein Lager mitten in der kasachischen Steppe verfrachteten. Der Transport erreichte sein Ziel zwei Tage vor der bedingungslosen Kapitulation des NS-Regimes. Alfred B. wurde erst vier Jahre später entlassen.

Die 24-jährige Theresia G. war Mutter von zwei kleinen Kindern, als sie im Januar 1945 in ihrem Heimatdorf im Banat (Rumänien) von bewaffneten sowjetischen Trupps zwangsrekrutiert wurde. Ihr Transport endete in einem Lagerbezirk im Osten der Ukraine. Sie arbeitete im Kohlenschacht und leistete schwere und gefährliche Arbeit. Ihr Mann war gefallen, ihre Kinder hatte sie zurücklassen müssen. Als sie vier Jahre später nach Hause kam, erkannten ihre Kinder sie zunächst nicht wieder. Ihr Haus war inzwischen enteignet worden. Theresia G. wohnt heute in Baden-Württemberg.

Diese Erfahrungen stehen für ein vielfaches Schicksal, das sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung als auch in der historischen Forschung kaum präsent ist. Seit Kurzem läuft an der Freien Universität im Forschungsverbund SED-Staat ein Projekt zu diesem Teil der deutsch-russischen Nachkriegsgeschichte.

Ende des Zweiten Weltkrieges wurden Hunderttausende deutsche Zivilisten – ungeachtet persönlicher Schuld oder Mitverantwortung für das NS-Regime – in die Sowjetunion oder in sowjetisch verwaltetes Gebiet deportiert. Genaue Zahlen sind bisher nicht bekannt. Die statistischen Berechnungen reichen von mindestens 270 000 bis zu einer dreiviertel Million Menschen. Die Zivilgefangenen – unter ihnen viele Frauen, Jugendliche, Kinder sowie alte Menschen, die gar nicht arbeitsfähig waren – sollten zur „Wiedergutmachung“ der durch den deutschen Vernichtungskrieg verursachten Zerstörungen in der Sowjetunion beitragen. Aus sowjetischer Sicht waren die Zivilisten gleichsam menschliche Reparationen.

In der Sowjetunion wurden die „Mobilisierten“ auf Arbeitsbataillone von 750 bis 1200 Personen verteilt und zumeist in Bergwerken, in der Schwerindustrie, beim Aufbau von Industriekomplexen, auf Baustellen, in Sowchosen oder in der Forstwirtschaft eingesetzt. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Zivildeportierten waren noch deutlich schlechter als die der Kriegsgefangenen. Schwerste körperliche Arbeit, permanenter Hunger, schlechte Unterkünfte, mangelnde Hygiene, Krankheiten und Epidemien forderten viele Opfer: Mindestens ein Drittel der Deportierten kam infolge der Strapazen auf den Transporten und in den Lagern um. Die Überlebenden wurden meist bis Ende der 1940er Jahre „repatriiert“. Nicht wenige kamen jedoch erst Ende 1955 frei – zusammen mit den letzten deutschen Kriegsgefangenen.

Bisher gibt es zu diesem Thema keine wissenschaftlich fundierte Dokumentation. In der zeitgeschichtlichen Forschung der alten Bundesrepublik wurde die Deportation deutscher Zivilisten in die UdSSR als ein Randphänomen von Kriegsgefangenschaft, Flucht und Vertreibung betrachtet; im Zuge der fortschreitenden Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen geriet sie mehr und mehr in Vergessenheit. Dazu trug bei, dass die Zahl der deutschen „Reparationsverschleppten“ weit geringer war als die der mehr als vier Millionen „Ostarbeiter“, die das NS-Regime nach Deutschland verschleppt hatte. In der Sowjetischen Besatzungszone beziehungsweise DDR blieb die gesamte Thematik von Flucht, Vertreibung, Deportation und Internierung ein Tabu. Wissenschaftliche Forschungen auf diesem Feld waren, schon aus Rücksicht auf die „Bruderstaaten“, nicht oder nur unter erheblichen Einschränkungen möglich. Eine Erforschung der verdrängten Geschichte kam hier erst seit der deutschen Vereinigung in Gang.

Das Forschungsprojekt „Deportierte deutsche Zivilisten in der Sowjetunion (1945–1955)“ hat zum Ziel, diese Lücke in der zeithistorischen Forschung zu schließen: Geforscht wird auf der Grundlage von deutschen und russischen Quellen und in enger Zusammenarbeit mit russischen Historikern und Archivaren. Diese Kooperation ermöglicht es, bisher nicht verfügbare Quellen für das Projekt zu erschließen. Auch die Bestände in deutschen Archiven sollen für das Forschungsthema systematisch ausgewertet werden. Außerdem werden biografische Interviews mit Zeitzeugen geführt. Das Projekt wird vom Staatsminister und Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) gefördert.

Die Autorin ist Privatdozentin am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften und leitet als Mitarbeiterin im Forschungsverbund SED-Staat das Projekt.