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Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart

Das Dahlem Humanities Center nimmt zum Wintersemester seine Arbeit auf

Von Ursula Lehmkuhl

Im Jahr der Geisteswissenschaften ist viel über die oft als ökonomisch irrelevant eingeschätzten geisteswissenschaftlichen Disziplinen geschrieben worden, darunter durchaus Kritisches. Bemerkenswert ist aber das Lob, das die Berichterstattung über diese doch sehr junge Fächergruppe prägt, die erst Mitte des 19. Jahrhunderts entstand als Reaktion auf die mit der industriellen Revolution beginnende Ausdifferenzierung der Naturwissenschaften. Philosophie, Geschichte, Literatur und die Beschäftigung mit fremden Völkern schlossen sich zu einem universitären Fächerkanon zusammen. Gemeinsam mit der Theologie und Rechtswissenschaft nahmen sie von da an nicht unerheblichen Einfluss auf die Entstehung und Entwicklung der „modernen“ Welt.

Als Wilhelm Dilthey Ende des 19. Jahrhunderts die Bezeichnung Geisteswissenschaften schärfte und populär machte, verband er damit den gesellschaftspolitischen Auftrag, den Zusammenhang zwischen „Leben, Ausdruck und Verstehen“ zu untersuchen. Daraus entwickelten sich ein methodisch-theoretischer und ein gesellschaftspolitischer Diskussionskontext. Beide Kontexte beeinflussen die Weiterentwicklung der Geisteswissenschaften bis heute.

Es ist unumstritten, dass kulturelle Praktiken und Deutungsmuster für Individuen und soziale Gruppen die zentrale Ressource in der Auseinandersetzung über deren Selbstverständnis, über unterschiedliche Weltanschauungen und über die Zuschreibung sozialen Sinns darstellen. Geisteswissenschaften im 21. Jahrhundert haben sich der Tatsache zu stellen, dass die Relevanz dieser Deutungsmuster und Praktiken in dem Maße zunehmen wird, in dem Globalisierungsprozesse die politische, ökonomische und kulturelle Standardisierung vorantreiben. Leben, Ausdruck und Verstehen unterliegen einem beschleunigten Wandel und einer kulturellen Dynamik, die die geisteswissenschaftliche Forschung vor neue theoretische und empirische Herausforderungen stellt.

Mit dem 2007 gegründeten Dahlem Humanities Center reagiert die Freie Universität auf diese Herausforderungen und etabliert sich als Ort der Neuorientierung geisteswissenschaftlicher Forschung im 21. Jahrhundert. Das Dahlem Humanities Center bündelt die Kompetenzen der beiden großen geisteswissenschaftlichen Fachbereiche der Freien Universität, des Fachbereichs Philosophie und Geisteswissenschaften und des Fachbereichs Geschichts- und Kulturwissenschaften. Gemeinsam zeichnen sie sich durch ein ungewöhnlich breites und deutschlandweit einzigartiges Fächerspektrum aus, das von der Altertumswissenschaft bis zur Turkologie reicht. Die Einrichtung schafft für diese Fülle der Disziplinen und Aktivitäten einen übergeordneten, interdisziplinären Forschungsrahmen, indem es die Untersuchung der Erscheinungsformen, Prinzipien und Wirkungsweisen kultureller Dynamik ins wissenschaftliche Zentrum rückt.

Dadurch, dass der Aspekt des kulturellen Wandels unterstrichen wird, vermittelt das Dahlem Humanities Center zwischen den Kunstwissenschaften, die sich traditionell mit „Werken“ befassen, und den historischen Wissenschaften, die seit jeher Phänomene der Transformation in den Vordergrund stellen. Durch die Integration dieser beiden Achsen will das Dahlem Humanities Center einen wesentlichen Beitrag zu einer umfassenden Theorie kultureller Dynamik leisten.

Was verbindet an der Freien Universität die Altertumswissenschaft mit der Theater- und Filmwissenschaft? Was ist der gemeinsame Bezug zwischen ostasiatischer Kunstgeschichte, Byzantinistik, griechischer und lateinischer Philologie oder zwischen katholischer Theologie, Turkologie und Geschichtswissenschaft? Gemeinsam ist diesem Strauß von Fächern, der nur eine Auswahl der an der Freien Universität vertretenen Disziplinen darstellt, dass sie sich mit kulturellen Mustern als dynamische Konstrukte beschäftigen. Diese Konstrukte machen nicht an den Grenzen des modernen Territorialstaats halt, sondern überschreiten diese. Sie sind historisch gewachsen und damit historisch kontingent, und sie sind kulturell interdependent. Einen Niederschlag findet dieses gemeinsame Verständnis von Kultur in den Themen der großen Forschungsverbünde, die die geisteswissenschaftliche Forschung an der Freien Universität charakterisieren: ob es sich dabei nun um „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ handelt, um „Kulturen des Performativen“ oder um die „Transformation der Antike“: In allen Fällen ist die Forschung gekennzeichnet durch eine kritische Auseinandersetzung mit dem europäischen Kulturkonzept. Hier setzt das Dahlem Humanities Center an: Es geht von gewachsenen Forschungsstrukturen aus und fußt auf einem Konzept von Kultur, das sich historisch begreift und deshalb die Transformationen sowie die je nach kultureller Gemeinschaft unterschiedlichen Profilierungen dieses Konzepts zum Gegenstand seiner Reflexionen macht. Die beteiligten Wissenschaftler beschäftigen sich mit den Voraussetzungen, Ursachen, Motiven und Abläufen kultureller Transformationen in sozialhistorischer, religiöser, politischer und ökonomischer Hinsicht. Es ist diese spezifische Herangehensweise, die das Dahlem Humanities Center zu einem Ort kultur- und geisteswissenschaftlicher Innovation macht.

Das Dahlem Humanities Center weist vier Forschungsschwerpunkte auf, die sachliche, methodisch-theoretische, chronologische sowie geographische Akzente innerhalb des übergreifenden Forschungsrahmens – der Analyse kultureller Dynamik – setzen: Untersucht werden kulturelle Transformationsprozesse, die Alte Welt und die Konstitution komplexer Gesellschaften, Aspekte ästhetischer Erfahrung und schließlich die sprachlichen Grundlagen kultureller Aktivität. Diese Struktur ist dynamisch konzipiert. Bereits in näherer Zukunft können neue Schwerpunkte hinzutreten. Ebenso werden sich bereits existierende Schwerpunkte in ihrem Gewicht verändern oder in ihrer Programmatik neu orientieren. Sie sind sind so angelegt, dass sich ihre Fragestellungen und Forschungsansätze zu unterschiedlichen Konfigurationen ordnen. So konzentrieren sich etwa die Forschungsschwerpunkte „Kulturelle Transformationsprozesse“ und „Ästhetische Erfahrung“ auf den „Chronotop Europa“, während die Forschungsschwerpunkte „Alte Welt“ und „Sprachliche Grundlagen kultureller Aktivität“ über Europa hinausgehen und durch eine globale Perspektive charakterisiert sind.

Hier liegt auch der Schnittpunkt zum Center for Area Studies, das im November 2006 an der Freien Universität gegründet wurde und die an der Freien Universität vorhandene Regionalkompetenz in den Bereichen Latein- und Nordamerika, Ost- und Westeuropa, Vorderer Orient und Ostasien bündelt. Als Schwester-Organisation des Dahlem Humanities Center ergänzt das Center for Area Studies das Forschungsprogramm durch seine dezidiert transnational und transkulturell ausgerichtete Perspektive und durch die systematische Verknüpfung von Geistes- und Sozialwissenschaften. Die deutschlandweit einzigartige Regionalexpertise ermöglicht empirisch fundierte Beiträge zur Erforschung kultureller Dynamiken in globaler Perspektive.

Das Dahlem Humanities Center wird zwei für seine Programmatik essenzielle Netzwerke aufbauen und dadurch die bereits existierenden regionalen und internationalen Kooperationen befördern: Regional bildet eine Reihe von Programmen und Aktivitäten wie etwa die geplanten „Hegel Lectures“ die Grundlage für eine enge Kooperation mit außeruniversitären Forschungs- und Kultureinrichtungen in der Region, zu denen die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, das Centre Marc Bloch oder die Stiftung Preußischer Kulturbesitz gehören. Die bereits aufgenommene Zusammenarbeit mit geisteswissenschaftlichen Zentren an herausragenden amerikanischen und europäischen Universitäten (unter anderem mit dem Consortium of Humanities Centers and Institutes sowie den großen Humanities Centers der Duke University und der Johns Hopkins University) unterstreicht die klare internationale Ausrichtung des Center und verspricht richtungsweisende Impulse für die gesamte geisteswissenschaftliche Forschung in Berlin und deutschlandweit.

Das Dahlem Humanities Center wird seine Arbeit zu Beginn des Wintersemesters 2007/08 aufnehmen. Die Auftaktprogramme, die zur Zeit vorbereitet werden und den zweiten Teil des Jahres der Geisteswissenschaften begleiten werden, versprechen, den hohen Ansprüchen der Planung gerecht zu werden.

Die Autorin ist Erste Vizepräsidentin der Freien Universität Berlin.

Im Internet: www.fu-berlin.de/dhc