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Spiel mit dem Zeit-Raum

Ein Auszug aus der Textsammlung „Berlin Hüttenweg – Stadt erzählen“

Von Michèle Métail

In Berlin, Dezember 2001, bin ich die Ufer des Landwehrkanals in ihrer ganzen Länge abgelaufen, nach denen der Spree und der Havel. Es war sehr kalt, die Straßen waren schneebedeckt. Jeder Fußstapfen legte das Schwarz des Asphalts frei, gleich einem Palimpsest. Am 26. habe ich an der Ecke von Glogauer Straße und Paul-Lincke-Ufer Halt gemacht. Ich habe die steinerne Brücke fotografiert, Thielenbrücke, den Uferpavillon und das Café Senti, das in einem alten Haus liegt. Seine Fassade war mit weißem, sehr fein gearbeitetem Stuck verziert. Über der obersten Etage thronte die Kuppel aus Zink und ähnelte einem Observatorium. Immer wieder waren Autos gefahren und hatten die Straße bloßgelegt; der zugefrorene Kanal indessen schob noch immer Eis voran. Ich musste lächeln, als ich das Schild des Eisverkäufers entdeckte, der gewiss an schönen Tagen in dem Pavillon saß: „Eis“. Von der Brücke aus hatte ich das seltsame Schild entdeckt, das die Schiffer warnt: „Achtung, Querströmung!“ – mitten in der Stadt!

Michèle Métail

Michèle Métail: „Ich wähle nur selten die kürzeste Strecke.“ Foto:Privat

17. Mai 2005. Seit gestern wohne ich in einem Haus in der Pflügerstraße, nun muss ich zum ersten Mal zum Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der FU in Dahlem. Zwischen Bussen, U-Bahn und S-Bahn hatte ich die Qual der Wegewahl. Ich wähle nur selten die kürzeste Strecke, die gerade Linie und die unterirdischen Wege, mir ist die Langsamkeit lieber, die Umwege und die obere Etage im Doppeldeckerbus.

Ich stieg also in den M 29, der an der Straßenecke hielt, Wittenbergplatz würde ich umsteigen in die U-Bahn. Die Sekretärin hatte mich mit dem Auto bis zu dem Haus gebracht, in dem ich wohnen würde, und so hatte ich die umliegenden Straßen noch nicht erkundet. Gleich hinter der Haltestelle bog der Bus auf die Thielenbrücke ein. Sofort erkannte ich dieses Landschaftsfragment wieder, städtisch und schiffbar zugleich, so charakteristisch für die Stadt. Das Café gab es noch immer an der Ecke, es ging in eine große schattige Terrasse über. Der M 29 war kein anderer als der umgetaufte 129. Aus welchem Grund war aus der 1 am Anfang ein M geworden? War so viel seit meinem letzten Aufenthalt geschehen?

Ehrlich gesagt, kannte ich diese Linie auswendig, von einem Ende zum andern. Ein Halt, ein Straßenname, ein Geschäft, die Strecke war mit Bildern abgesteckt, die auf unvorhersehbare Weise wieder auftauchten. Ich wusch Gedächtnisschichten aus, die sich in fünfzehn Jahren abgelagert hatten. Meine Strecken überkreuzten sich ohne Chronologie, belebten Empfindungen, Erinnerungen wieder und zeichneten eine innere Kartographie.

Ich zuckte zusammen, als der Bus gegen die Äste der Platanen stieß, die kugeligen Früchte trommelten auf das Dach, dieses Detail hatte ich vergessen wie jene Registrierplaketten, die an jeden Stamm geheftet waren. Sicher gibt es Register, in denen die Artennamen, vielleicht auch die Pflanzdaten eingetragen sind, seit Langem möchte ich mich nach diesem gartenbaulichen Zivilstatus erkundigen.

Der Bus näherte sich Vierteln, in denen ich gewohnt hatte, und die Bilder strömten zahlreicher herbei. Ich fühlte mich bisweilen hin- und hergerissen zwischen linker und rechter Seite, ich wollte alles wiedersehen, die verflossene Zeit ermessen, indem ich das Neue entdeckte, die gerade zu Ende gebauten Häuser, die auf Mieter warteten und von denen ich nur die Fundamente gesehen hatte.

Als ich Wittenbergplatz ausstieg, war ich noch immer in meinen Erinnerungen. Hier war es 1990, und jetzt stand ich schon wieder auf dem falschen Bahnsteig, um in die U 1 zu steigen. In den Gängen und Tunneln der U-Bahn bemühte ich mich, mir das Außen vorzustellen, an Orientierungsmalen fehlte es nicht. An jeder Station hatte ich Lust auszusteigen. Schließlich kam ich am Thielplatz an, provisorischer Endbahnhof für die Zeit von Gleisbauarbeiten, er entsprach dem Ziel meiner Reise.

Die Flut an aufgestiegenen Gedächtnisbildern beschäftigte mich so sehr, dass ich blindlings loslief und nicht einmal überlegte, welche Richtung ich einschlagen musste. Studentengruppen kamen mir entgegen, ich erkundigte mich, Hüttenweg? Literatur? Tut uns leid, wir studieren Jura! Zweifellos musste ich mich verlieren, Leere schaffen, den Moment hinauszögern, in dem ich mich im Institut vorstellen würde. (...)

Hüttenweg, chemin des huttes, ich hatte mir einen Sandweg über die Wiesen eines weiten Campus vorgestellt, nun ging ich an prunkvollen Villen vorbei, von wahren Parks umgeben, doch ich hatte keine Zeit mehr zum Schauen. Gerade noch rechtzeitig kam ich zum ersten Seminar. Thielenbrücke – Thielplatz, Koinzidenz von Ortsnamen, während mehrerer Wochen bemühte ich mich, auf jeweils unterschiedlichen Wegen von einem Punkt zum anderen zu gelangen. Die durchquerten Orte riefen immer wieder Flashs in mir herauf, Rückblenden, die ich zu datieren, zu verorten, untereinander zu verbinden suchte. In diesem Einstein-Jahr spielte ich mit dem Zeit-Raum, das Gedächtnis ist seltsam an den Ort gebunden. (...)