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Vom Hören und Sehen

Ein preisgekröntes Forschungsprojekt untersucht die Darstellungspraxis der italienischen Oper im 19. Jahrhundert

Von Clemens Risi

Der Musik- und Theaterwissenschaftler Dr. Clemens Risi wurde dieses Jahr mit dem renommierten Preis „Premio Internazionale Rotary Club di Parma Giuseppe Verdi“ geehrt. Risi, der am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin lehrt, erhielt die Auszeichnung für sein Buchprojekt über Verdi und die musiktheatrale Darstellungspraxis seiner Zeit. Der Preis, der mit 10 000 Euro dotiert ist, wird alle zwei Jahre vom Rotary Club und dem „Istituto Nazionale di Studi Verdiani“ in Parma verliehen. An dieser Stelle umreißt Risi sein Forschungsprojekt.

Dass die Oper ihren besonderen Reiz daraus bezieht, dass in ihr unterschiedliche Künste vereinigt sind, dass neben dem Hörsinn immer auch der Sehsinn angesprochen wird, ist unbestritten. Jede theoretische und praktische Auseinandersetzung mit Oper muss sich immer wieder mit der Frage auseinandersetzen, wie das Akustische (Musik und Gesang) mit dem Visuellen (Mimik, Gestik, Bewegung, Szenographie) vereinbar ist. Der Erfolg jeder Aufführung bemisst sich daran, wie die Spannung zwischen diesen beiden Ebenen gehalten wird.

Keiner wusste dies so gut wie Giuseppe Verdi, der sich selbst immer als „uomo di teatro“, als Mann des Theaters, und nicht als bloßer „musicista“ verstanden wissen wollte. In einem seiner berühmtesten Briefe schrieb Verdi im Jahr 1848 über die geplante Besetzung der Lady Macbeth mit der Sängerin Eugenia Tadolini und offenbarte damit eine Haltung, die alle konservativen Liebhaber von Oper vor den Kopf stoßen sollte: „Die Tadolini hat eine schöne Figur, ich aber möchte, dass die Lady hässlich und böse ist. Die Tadolini singt vollendet; ich aber möchte, dass die Lady nicht singt. Die Hauptstücke der Oper dürfen absolut nicht gesungen werden; sie müssen agiert und deklamiert werden.“

Doch nach 30 Jahren Bühnenerfahrung, Probenzwisten, Premierenerfolgen und -pleiten fiel sein Urteil völlig anders aus. Als wollte er sich der Geister, die gerade er gerufen hatte, wieder entledigen, urteilte er 1875: „Ein Sänger, der von der dramatischen Aktion ergriffen ist, dem jede Fiber seines Körpers bebt, der ganz aufgeht in der Rolle, die er schafft, der wird den rechten Ton nicht finden. Vielleicht eine Minute lang, in der nächsten halben Minute singt er schon falsch oder die Stimme versagt. Für Aktion und Gesang ist selten eine Lunge stark genug.“ Diese beiden extremen Positionen – wohlgemerkt desselben Autors – stellen die beiden Pole dar, zwischen denen sich Theorie und Praxis der musiktheatralen Darstellung des 19. Jahrhunderts bewegen.

Das Zusammenwirken von Musik und Darstellungspraxis ist eine der Besonderheiten von Oper, der am schwierigsten auf die Spur zu kommen ist. Da sich die Aufführungsdimension einer Oper nie allein aus der Partitur erschließen lässt, gilt es, unterschiedlichste Quellen und Zeugnisse (Theorien, Rezeptionszeugnisse, Bildquellen) gleichzeitig zu erfassen. Die grundsätzliche Schwierigkeit und damit Herausforderung für eine am Performativen interessierte Forschung besteht aber darin, dass vergangene Aufführungen nicht mehr rekonstruierbar sind. Die Wechselwirkung von Theorien zur Darstellungskunst mit der tatsächlichen Darstellungspraxis in der italienischen Oper sowie die Resonanz in der Auffassung Verdis harrt noch der detaillierten Aufarbeitung und verspricht wertvolle Einsichten in eines der spannendsten, lebendigsten Kapitel der europäischen Oper. Hier sind viele neue Erkenntnisse über den Zusammenhang des Sprech- und Musiktheaters und den Affekt- und Darstellungsbegriff der Zeit zu erwarten, der wohl in keinem Fall ein rein italienischer war, sondern Einflüsse aus und auf ganz Europa aufwies.

Dieser Blick auf die italienische Oper des 19. Jahrhunderts zeigt, dass Musik und Inszenierung immer in einem komplexen und zuweilen auch widersprüchlichen Verhältnis stehen, und dies nicht erst, seit das so genannte Regietheater die Bühne ergriffen hat. Doch ist es genau diese Spannung, die einen Opernbesuch immer wieder aufregend macht.

ZUR PERSON

Der Musikwissenschaftler Clemens Risi


Clemens Risi; Foto: Bernd Wannenmacher

Clemens Risi studierte von 1991 bis 1996 Musikwissenschaft, Theaterwissenschaft und Betriebswirtschaft in Mainz, München und Rom. 2001 wurde er in Mainz mit einer Arbeit über das italienische Musikdrama zwischen 1830 und 1850 promoviert. Seither ist Risi wissenschaftlicher Mitarbeiter im theaterwissenschaftlichen Teilprojekt „Ästhetik des Performativen“ des Sonderforschungsbereichs „Kulturen des Performativen“ der Freien Universität Berlin.

Derzeit forscht Clemens Risi zur Aufführungsanalyse im Musiktheater sowie zum Affektbegriff in der Oper des 17. Jahrhunderts und lehrt am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. cwe