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Urlaub für jedermann

Thomas Cook und die Folgen: Vor 165 Jahren organisierte ein Engländer die erste Pauschalreise

Es war im Sommer des Jahres 1841, als unter den Passanten der englischen Stadt Leicester ein Flugblatt von Hand zu Hand ging. Darauf zu lesen war ein nie da gewesenes Angebot: Ein gewisser Thomas Cook offerierte eine Eisenbahnreise von Leicester ins zehn Meilen entfernte Loughborough zu einer Veranstaltung gegen Alkoholmissbrauch. Hin- und Rückfahrt, Tee, Kekse und Blasmusik inbegriffen. Die Offerte des 32-jährigen Engländers stieß auf große Resonanz: 570 Fahrgäste drängelten sich am 5. Juli in neun verdecklosen Stehplatz-Waggons. Im Reisepreis enthalten waren neben dem angekündigten Tee auch Schinkenbrote, Sport und Spiele, sowie lehrreiche Reden gegen Alkohol und Tabak. So entstand die erste Pauschalreise.

Seit jenem Julitag 1841 hat sich Tourismus zu einer der weltweit größten Wirtschaftsbranchen entwickelt. Zahllose Regionen und etliche Volkswirtschaften sind mittlerweile vom Fremdenverkehr abhängig. Und obwohl Individualreisen immer beliebter werden, ist Massentourismus ohne die Pauschalreise nach wie vor nicht denkbar. „Auch wenn Alternativreisende und Besserverdienende verächtlich auf die ,Neckermänner‘ herabblicken – die organisierte Reise ist weiterhin auf dem Vormarsch“, schreibt Dr. Hasso Spode, Leiter des Historischen Archivs zum Tourismus (HAT) und Privatdozent am Willy-Scharnow-Institut der Freien Universität Berlin in seinem Buch „Wie die Deutschen ,Reiseweltmeister‘ wurden“.

Aus den verteilten Reiseflugblättern wurden bald Plakate, und aus Herrn Cooks Aktivitäten das erste Reiseunternehmen. Der umtriebige Engländer wandte sich der besser betuchten Mittelschicht zu und organisierte 1845 die erste rein kommerzielle Reise mit fünf Prozent Provision für sich. Die Tour führte durch Wales, wo die Reisenden den höchsten Gipfel, den 1 085 Meter hohen Mount Snowdon erklimmen konnten. Es folgten Reisen auf das europäische Festland. 1866 fuhr Cooks Sohn John Mason Cook mit den ersten Klienten in die neue Welt, nach Amerika.

Eine neuer Wirtschaftszweig erblühte, und Cook blieb mit seinen Bemühungen nicht allein. Bald kämpften verschiedene englische Privatbahnen heftig um Kunden und Marktanteile. Man buhlte mit der Verbesserung des Reisekomforts um die Gunst der Reiselustigen: geschlossene Wagen, gepolsterte Sitze und kleinere Preise. So warb die Midland-Company für Reisen zur Weltausstellung nach London: „Das Wunder von 1851! Von York nach London und zurück für eine Krone. Zwei Züge täglich!“

König der Pauschalreise blieb jedoch zunächst Thomas Cook. „Die grundlegenden Instrumentarien der Touristikbranche wurden von der Cook-Dynastie entwickelt und erstmals im großen Stil angewandt“, erläutert Tourismus-Historiker Spode. Der Kunde erwarb mit dem Couponbuch – „Cooks Rundreisekarten“ – ein komplettes Leistungspaket: Fahrt, Verpflegung und Übernachtung, gegebenenfalls Reiseleitung und Extras – vom Honorar für den Dolmetscher über Zelte und Kameltreiber bis zu den Billets für die Oberammergauer Passionsspiele. Eine Reise wurde punktgenau planbar und durch den Mengenrabatt verbilligt. „Damit war die Industrialisierung des Reisens eingeleitet“, sagt Spode. Auch in Deutschland erkannte man die Chancen des Tourismus: Bereits 1842 – also ein Jahr nach Cooks erster Reise-Offerte – wurde das erste deutsche Reisebüro, Reisebüro Rominger, in Stuttgart gegründet. Wenige Jahre später folgten Reisebüro Riesel in Berlin und Reisebüro Stangen erst in Breslau, dann Berlin. „Die Kundenzahlen dieser Unternehmen reichten bei weitem nicht an Cook heran, wohl aber die Qualität der Ware“, erklärt Hasso Spode. Auch an Fernreisen wagten sich die deutschen Veranstalter. Carl Stangen organisierte seine erste Gesellschaftsreise 1864, ein Jahr nach seiner Firmengründung. Das Ziel: Palästina. Groß war daher das Missfallen in Deutschland, das Kaiser Wilhelm II. erntete, als er 1898 seinen Staatsbesuch in Palästina von Thomas Cook ausrichten ließ – und sich bei der britischen Konkurrenz auch noch handschriftlich bedankte. „Es ist allerdings fraglich, ob Stangen mit dieser riesigen Karawane nicht überfordert gewesen wäre“, gibt Spode zu bedenken. Mit einer prunkvollen Prozession zog der Kaiser damals in Jerusalem ein. Angeführt wurde der Zug von Frank Cook, dem Enkel des Erfinders der Pauschalreise. Der Palästina-Trip mit 1500 Kamelen, Maultieren, Zug- und Reitpferden, 800 Treibern, 290 Küchenmeistern und Kellnern, 118 Karossen, Kutschen und Karren, sowie einer Eskorte von 27 Paschas, deren 80 Bediensteten und 600 türkischen Truppen kostete den Monarchen damals genau 48 130 Pfund, zwei Schillinge und drei Pence.

Dieses Geschäft ging Stangen zwar durch die Lappen, dennoch stieg er zum führenden Reisebüro in Deutschland auf. In allen Industrieländern boten gegen Ende des 19. Jahrhunderts professionelle Reiseveranstalter ihre Dienste an, zumeist für Fahrten ins Ausland. Je länger die zurückgelegte Strecke und je exotischer das Reiseziel, desto eher buchte die winzige Schichte der Reichen und Super-Reichen bei einem Reise-Experten. Der Begriff „Luxus“ hielt Einzug in die Terminologie des Touristen; auf den Werbeplakaten dieser Zeit posieren elegante Weltenbummler, versehen mit typischen Reiseattributen wie elegantem Staubmantel, Wollplaid, Fernglas und Zigarettenspitze. Wesentlich prosaischer entwickelte sich derweil eine andere Seite der Reiseunternehmungen: die Ozeanreise für Auswanderer, die zu Tausenden über den Nordatlantik fuhren, meist im Zwischendeck zusammengepfercht.

Die breite Masse beschränkte sich in ihrer Reiselust zumeist auf den Wochenendausflug in die nähere Umgebung. „Der Inlandsurlaub – und damit das Gros der Reisen – wurde überwiegend selbst organisiert, über Annoncen, Mundpropaganda und Alpenvereine“, erklärt Hasso Spode. Selbst die Volksreisen, die Cook und andere Veranstalter in England anboten, waren nicht für die Arbeiter zugeschnitten, sondern bestenfalls auf eine kleinbürgerlich-mittelständische Klientel. Denn gegen Ende des 19. Jahrhunderts war bezahlter Urlaub für die Arbeiterschaft und die Bauern auf dem Land noch immer ein Fremdwort.

Erst in der Weimarer Republik setzten die Gewerkschaften in den Tarifverträgen das Recht auf Urlaub durch, 1929 genossen immerhin zwölf von 35 Millionen Beschäftigten freie Tage. Die Nationalsozialisten arrangierten für einfache Arbeiter schließlich „Kraft durch Freude“-Reisen, die im großen Stil zu Propaganda-Zwecken missbraucht wurden.

Nach dem Zweiten Weltkrieg teilt sich die deutsche Ferienwelt zunächst in Ost und West. In der Bundesrepublik verdienten Reiseveranstalter ein Vermögen an der Sehnsucht nach Sonne und Mittelmeer; im Osten dagegen wurde das Verreisen planwirtschaftlich gelenkt: Auslandsreisen führten DDR-Bürger zumeist in „sozialistische Bruderstaaten“. Im vereinten Deutschland ist der Erfolg der Pauschalreise – bei aller Kritik an „Teutonengrill“ und „Ballermann“ – nach wie vor ungebrochen.

Thomas Cook ist heute mit rund 23 000 Mitarbeitern nach der TUI der zweitgrößte Konzern der Tourismusbranche. Gesellschafter des traditionsreichen Reiseveranstalters mit Sitz im hessischen Oberursel sind zwei deutsche Aktiengesellschaften: Lufthansa und KarstadtQuelle. Zu schaffen macht dem Unternehmen allerdings das negative Image der Pauschalreise: Viel zu wenig würden heute Vielfalt, Individualität, Sicherheit und Preiswürdigkeit der Pauschalreise betont, heißt es aus der Konzernzentrale. So wie vor 165 Jahren. Die 570 Gruppenreisenden im Zug nach Leicester zahlten damals nur einen Schilling – statt der für diese Strecke üblichen zwei.

Von Ortrun Huber