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Im Blick des anderen

Der Kunsthistoriker Martin Schieder wurde für sein Buch über die deutsch-französischen Kunstbeziehungen nach 1945 vom Bundestag und von der Assemblée Nationale geehrt

Die gute Nachricht aus dem hohen Haus quoll zuerst nur schmucklos aus dem Faxgerät. Erst später erfuhr der Kunsthistoriker Martin Schieder von der Freien Universität Berlin dann auch per Telefon, dass er den Deutsch-Französischen Parlamentspreis 2005 erhalten wird. Die Auszeichnung wurde ihm am 6. April nach der gemeinsamen jährlichen Sitzung des Deutschen Bundestages und der Assemblée Nationale im Berliner Reichstagsgebäude überreicht. Objekt der Ehrung war Schieders Habilitationsschrift „Im Blick des anderen“ über die deutsch-französischen Kunstbeziehungen zwischen 1945 und 1959. Bundestagspräsident Norbert Lammert würdigte das Werk als wissenschaftliche Arbeit von analytischer Schärfe und hoher Qualität. Schieder beleuchte damit einen bedeutenden Aspekt der deutsch-französischen Beziehungen. Die mit 10 000 Euro dotierte Auszeichnung wurde auch dem französischen Germanisten Denis Goeldel zuteil.

„Ich habe den Tag der Preisverleihung sehr genossen“, sagt Martin Schieder rückblickend, „wann bekommt unser Fach schon einmal solch eine Aufmerksamkeit durch die Politik? In diesem Sinne verstehe ich den Preis als eine Aufforderung der Politik an die Wissenschaft zur weiteren Reflektion über die eigene und die fremde Kultur.“

Schieder studierte in Heidelberg und an der Freien Universität Berlin Kunstgeschichte, Geschichte und Klassische Archäologie. Seit zwei Jahren lehrt er als Gastprofessor am Kunsthistorischen Institut der Freien Universität. Sein Buch „Im Blick des anderen“ widmet sich einem Aspekt der deutsch-französischen Beziehungen, der bislang kaum Beachtung fand: der Annäherung und Aussöhnung beider Länder nach dem Zweiten Weltkrieg mit den Mitteln des Kulturaustauschs. „Die Kulturpolitik war neben der Außen- und Wirtschaftspolitik die heimliche dritte Säule der französischen Besatzungspolitik“, erläutert der gebürtige Trierer.

Schieders Buch ging aus einem Forschungsprojekt am Deutschen Forum für Kunstgeschichte in Paris hervor. Diese Einrichtung entstand vor neun Jahren, 1997, mit Mitteln des Bundesforschungsministeriums und auf Initiative von Thomas W. Gaehtgens, Professor für Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin. Das Forum an der Place des Victoires im noblen zweiten Arrondissement hat sich mittlerweile auch im Bewusstsein der Franzosen zu einem angesehenen Ort der kunstgeschichtlichen Forschung entwickelt. In diesem Jahr wird das Deutsche Forum in die „Stiftung Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland“ aufgenommen und damit fest etabliert.

Unter Gaehtgens‘ und Schieders Leitung wurde am Deutschen Forum von 2001 bis Ende vergangenen Jahres an einem Projekt zum Thema „Französische Kunst im Nachkriegsdeutschland – Deutsche Moderne in Frankreich nach 1945“ geforscht. Insgesamt sechs Wissenschaftler erfassten dazu die wichtigsten kunstkritischen und kulturhistorischen Dokumente, zeichneten die deutsch- französischen Ausstellungen jener Zeit nach und rekonstruierten die Kontakte zwischen den tonangebenden Akteuren der Kunstszene beiderseits des Rheins. Das Vorhaben wurde mit rund 250 000 Euro von der Fritz Thyssen Stiftung gefördert.

„Die Politik in der französischen Militärregierung zielte bis Ende der 1940er Jahre darauf ab, die Deutschen auch mit den Mitteln der Kulturpolitik geistig umzuerziehen“, erläutert Martin Schieder. Bis zur Gründung der Bundesrepublik präsentierten die Franzosen in ihrer Besatzungszone – und mit Bedacht auch in denen, die unter der Kontrolle von den USA und Großbritannien standen – fast 50 Ausstellungen. Die Franzosen stellten sich getreu ihrem Selbstverständnis als Land der Zivilisation und der Aufklärung dar, wie der Kunsthistoriker ausführt. Sie hätten die in kultureller Hinsicht ausgehungerten Deutschen nach dem Ende des Dritten Reiches wieder an die moderne Kunst herangeführt – und das sei nach französischer Lesart selbstredend moderne Kunst der Grande Nation gewesen. Um eine möglichst breite Öffentlichkeit zu erreichen, wurden einzelne Ausstellungen der Bevölkerung sogar auf Lastwagen herumgefahren. „Diese Form der Propaganda war sehr erfolgreich“, erklärt Martin Schieder. Denn in den deutschen Kunstkritiken über die französischen Ausstellungen dominierten drei Motive: die Erleichterung über das Ende der künstlerischen Verblendung während der NS-Zeit, der Wunsch nach Aussöhnung mit dem ehemaligen „Erbfeind“ und die für Frankreich empfundene Bewunderung.

Als eine der spektakulärsten Expositionen wanderte 1946 bis 1947 die Ausstellung „Moderne französische Malerei“ durch zehn deutsche Städte. Die 130 Werke von Künstlern wie Manet, Monet,Van Gogh, Chagall, Cézanne und Picasso zogen nach Schieders Auswertungen rund 150 000 Besucher an. Auch hier waren die Franzosen sehr auf die Außendarstellung bedacht. „Die Kuratoren haben peinlich genau darauf geachtet, dass unter den ausgestellten Künstlern keiner vertreten war, der mit der deutschen Besatzungsmacht kollaboriert hatte“, erläutert der Wissenschaftler.

Großen Einfluss auf die Gestaltung der Ausstellungen nahmen die in Deutschland stationierten französischen Kulturoffiziere, wie die historischen Quellen belegen. Viele von ihnen waren nach Schieders Erkenntnissen den Deutschen gegenüber weniger kritisch eingestellt als die Regierung in Paris. Mit wachsendem Erfolg drängten die Kulturoffiziere darauf, den Anspruch der geistigen Umerziehung der Deutschen aufzugeben und durch das Ziel der Integration in die westliche Staatengemeinschaft zu ersetzen. „Die Umerziehung der Deutschen und die Kulturarbeit war nur schwer mit dem Status als Besatzungsmacht zu vereinbaren“, sagt Schieder. Die Kulturoffiziere waren es auch, die sich gegen den einseitigen Kulturaustausch wandten und sich für Ausstellungen deutscher Künstler in Frankreich stark machten.

Eine wichtige Rolle im kulturellen Austausch in den Jahren weit vor der Unterzeichnung des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages von 1963 hätten private Vermittler wie Galeristen und Kunsthändler gespielt, aber auch die Künstler selbst, erklärt Martin Schieder. „Sie waren die eigentlichen Träger des Dialogs, weil viele von ihnen sich bereits aus der Zeit vor 1933 kannten und mühelos an die guten Beziehungen anknüpfen konnten.“

Die offizielle Präsentation von Kunstwerken im jeweils anderen Land blieb allerdings mehr als fünf Jahre lang einseitig. Erst 1950 wurde die erste Ausstellung deutscher Künstler in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg eröffnet. Das Projekt wurde mit großem diplomatischen Geschick durch den von Bundeskanzler Konrad Adenauer nach Paris entsandten Botschafter Wilhelm Hausenstein eingefädelt. Doch bei der Exposition in der Orangerie der Tuileries kamen die Deutschen nicht, wie erhofft, mit zeitgenössischer Kunst zum Zuge, denn in diesem Bereich wollten die Franzosen nicht von ihrem kulturellen Führungsanspruch abrücken. Die Ausstellung beschränkte sich deshalb auf Werke „von den Kölner Meistern bis Albrecht Dürer“.

Ihren Anspruch auf kulturelle Vorherrschaft gaben die Franzosen erst im Jahr 1959 auf. Anlass war die „documenta II“ in Kassel, bei der die Ecole de Paris gegenüber der New York School erstmals öffentlich sichtbar ins Hintertreffen geriet. Der über Jahrhunderte gewachsenen gegenseitigen Bewunderung in Frankreich und Deutschland für die Kunst des jeweils anderen Landes tat dies allerdings keinen Abbruch.

Von Carsten Wette