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Die Wiederentdeckung der Rituale

Ein Forscherteam der Freien Universität Berlin untersucht Rituale in Familie, Schule, Medien und Jugendkultur

Seit einigen Jahren kündigt sich eine Wiederentdeckung der Rituale an. In allen gesellschaftlichen Bereichen besinnt man sich auf ihre Bedeutung für die Entstehung des Sozialen und die Entwicklung von Gemeinschaften. Der Tod von Papst Johannes Paul II. und die Neuwahl von Benedikt XVI. haben Millionen Menschen deutlich gemacht, wie wichtig Rituale für den Übergang zwischen Leben und Tod und für die Kontinuität von Institutionen sind. Von der katholischen Kirche wurde ein sakrales Ereignis inszeniert und ein mediales Schauspiel aufgeführt, das über Rom hinaus weltweite Wirkungen hatte. Seiner Dynamik und Faszination konnten sich selbst Menschen nicht entziehen, die der Kirche ansonsten distanziert gegenüberstehen.

Kirchliche Liturgien und politische Zeremonien machen deutlich: Rituale sind Inszenierungen und Darstellungen von Macht. Sie wirken dadurch, dass sie ihre Teilnehmer und Zuschauer emotional ansprechen und in ihren Bann ziehen. Die an rituellen Handlungen beteiligten Menschen glauben an die Funktion und Notwendigkeit der Rituale und erzeugen durch ihren Glauben deren Wirkungen. Zu diesen gehört auch die Vermittlung der in rituellen Arrangements impliziten sozialen Hierarchien, die Rituale häufig dadurch verbergen, dass sie sich den Anschein geben, als seien sie „natürlich“ und als existierten sie schon immer, ohne einem historischem Wandel zu unterliegen.

In den Gesellschaften der Gegenwart werden unterschiedliche soziale Praktiken als Rituale oder Ritualisierungen bezeichnet. Neben Liturgien, Zeremonien und Feiern lassen sich je nach Anlass unterscheiden: Übergangsrituale (Geburt, Initiation, Hochzeit, Tod); Rituale der Institution oder Amtseinführung; jahreszeitlich bedingte Rituale (Weihnachten, Geburtstage, Erinnerungstage, Nationalfeiertage); Rituale der Intensivierung (Feiern, Liebe, Sexualität); Rituale der Rebellion und des Widerstands (Friedens- und Ökobewegung, Jugendrituale); Interaktionsrituale (Begrüßung, Verabschiedung, Konflikte).

Auch im Alltagsleben der Menschen und vor allem bei der Erziehung und Bildung von Kindern und Jugendlichen haben Rituale eine wichtige Funktion. Im Rahmen der auf zwölf Jahre projektierten und bereits für neun Jahre von der Deutschen Forschungsgemeinschaft bewilligten „Berliner Ritualstudie“, die im Sonderforschungsbereich „Kulturen des Performativen“ an der Freien Universität Berlin durchgeführt wird, untersucht ein Team von Sozialwissenschaftlern die Bedeutung von Ritualen in Prozessen der Erziehung, der Bildung und des Lernens. Im Zentrum steht die Frage, welche Rolle Rituale in den großen Sozialisationsfeldern Familie, Schule, Medien und Kinder- und Jugendkultur spielen.

An einer innerstädtischen reformpädagogisch orientierten Grundschule, deren Kinder aus mehr als zwanzig Ländern und Ethnien stammen, wird diese Untersuchung mit ethnografischen Methoden durchgeführt. Die Forscher beobachten die Inszenierungen und Aufführungen von Ritualen und Ritualisierungen in der Schule, in den Familien einiger Schüler und in der Freizeit der Kinder und Jugendlichen. Sie machen Fotos und Videoaufzeichnungen, führen Interviews und Gruppendiskussionen und werten die gewonnenen Ergebnisse aus. So wird versucht, der Komplexität rituellen Handelns gerecht zu werden und seine Bedeutung für Lern- und Bildungsprozesse herauszuarbeiten.

Für Eltern und Kinder sind die wichtigsten familiären Rituale: Weihnachts-, Kindergeburtstags- und Essensrituale sowie der jährliche Familienurlaub. Beim Frühstück in der Küche, beim gemeinsamen Essen und miteinander Sprechen vergewissern sich Eltern und Kinder an jedem Morgen, dass sie zueinander gehören. Wird am Sonntag im Wohnzimmer gefrühstückt, dann wird eine Kerze angezündet und man lässt sich mehr Zeit füreinander und für Gespräche über die Angelegenheiten der Familie. Unter diesen finden die Schulprobleme der Kinder und die Verteilung der familiären Aufgaben besondere Aufmerksamkeit. Bei kleinen Kindern spielt das Ritual des Ins-Bett-Bringens eine wichtige Rolle. Mit seiner Hilfe lernen Kinder, angstfrei vom Tag in die Nacht, vom Wachen in den Schlaf hinüber zu gleiten. Bei Kindergeburtstagen inszenieren Eltern ein Kinderfest, bei dem ihre Kinder und ihre gleichaltrigen Freundinnen und Freunde im Mittelpunkt stehen. In kreativer Nachahmung der „heiligen Familie“ feiert sich mit dem Weihnachtsfest die Familie selbst. Auch im Familienurlaub verbringen Eltern und Kinder eine besondere Zeit, die sich vom alltäglichen Leben abhebt und in der die Kinder vieles erleben und lernen, was ihnen sonst nicht zugänglich ist.

Dass die Schule eine rituelle Veranstaltung ist, zeigt bereits das Einschulungsritual, in dem sich die Schulgemeinschaft als „schulische Familie“ präsentiert. In der Inszenierung von Festen und Feiern, durch die sich die Kinder mit der Schule und ihren Arbeits- und Lebensformen identifizieren lernen, werden diese Erfahrungen verstärkt. Auch der schulische Alltag mit seinen fachspezifischen Lernkulturen wird stark durch Rituale und Ritualisierungen bestimmt. Mit dem Ritual des Montagmorgenkreises, in dem die Schüler von ihren Erlebnissen am Wochenende berichten, wird der Übergang von ihrer außerschulischen Lebenswelt in den Unterricht vollzogen, in dem institutionalisiertes und damit rituelles Lernen stattfindet.

In Mikroritualen wie Begrüßungen oder Minuten der Stille wird der Übergang von der Pause zu den Anforderungen des Unterrichts vollzogen. In mimetischen Prozessen selbsttätiger Nachahmung erwerben die Schüler ein praktisches rituelles Wissen, das es ihnen möglich macht, sich angemessen in der Institution Schule zu verhalten. Mit Hilfe von Ritualen und der für sie konstitutiven Wiederholung schreibt die Institution Schule ihre Werte, Normen und Praktiken in die Körper der Schüler ein. Schon wenige Monate nach der Einschulung sind die Kinder zu Schulkindern geworden, die gelernt haben, still zu sitzen, sich in die Gemeinschaft einzuordnen und die erforderlichen Aufgaben zu erfüllen.

In Ritualen wird etwas inszeniert und aufgeführt, das sich anders nicht ausdrücken und darstellen lässt. Hierin liegt die Besonderheit ritueller Arrangements. Wie in den Handlungen des Theaters erzeugen der körperliche Charakter der Rituale mit ihrer Materialität bei den Teilnehmern und Zuschauern Empfindungen und Erlebnisse, die sich anders nur schwer vermitteln lassen. Magie und Macht der Rituale liegen hierin begründet.

In Ritualen bearbeiten Menschen soziale Differenzen, erzeugen soziale Ordnungen und schaffen Gefühle der Zugehörigkeit. Sie bieten Menschen die Möglichkeit, sich im gemeinsamen Handeln zu begegnen, miteinander zu kommunizieren und zu interagieren. Rituale vermitteln emotionale Sicherheit und soziale Verlässlichkeit. Besonders in Zeiten ökonomischer, politischer und sozialer Ungewissheit spielen ihre Möglichkeiten, Gemeinschaften zu erzeugen, eine wichtige Rolle.

Von Christoph Wulf, Professor für Anthropologie und Erziehung am Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie und am Sonderforschungsbereich „Kulturen des Performativen“ an der Freien Universität Berlin.