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Harte Schule, weicher Kern

Der Unfallmediziner Wolfgang Ertel ist für Patienten und Ärzte da

17 Uhr, Unfallchirurgie, Visite auf der Privatstation. Auf der "Galastation", wie Wolfgang Ertel schmunzelnd sagt. Fehlt nur noch der Privatassistent, dann kann s losgehen. Wolfgang Ertel funkt seinen Mitarbeiter vom Telefon aus an, keine Antwort. "Das hätte es früher nicht gegeben", sagt Ertel und lächelt. Eine scherzhafte Bemerkung, denn der Assistent wurde in den Schockraum gerufen und behandelt in diesem Moment einen lebensgefährlich verletzten Patienten. Fünf Minuten später ist er zur Stelle. Dennoch führt der Satz direkt zur Person des 46jährigen Unfallchirurgen, der über sich selbst sagt: "Ich verkörpere eine neue Chefarzt-Generation."

Seit August 2001 leitet Wolfgang Ertel die Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie am Hindenburgdamm, die seit zwei Jahren zur Charité - Universitätsmedizin Berlin gehört. Ein jugendlich und sympathisch wirkender Ordinarius, der seinen bayerischen Akzent gar nicht verhehlen möchte und stolz ist auf seine 24 Mitarbeiter, eine ausgesprochen junge Mannschaft. "Unter meinen Oberärzten bin ich der älteste", sagt Wolfgang Ertel und es klingt nach einer Auszeichnung.

Ein Medizin-Professor neuen Typs? Mit Sicherheit, so viel lässt sich sagen, ein Chefarzt unter modernen Vorzeichen. Auslandsaufenthalte in den USA und in Zürich hätten ihn stark geprägt, erzählt Wolfgang Ertel. "Dort ist der Umgang miteinander sehr tolerant, sehr liberal. Das Du ist weit verbreitet - ohne dass man Angst haben müsste, den Respekt voreinander zu verlieren." In seiner Abteilung legt der gebürtige Weilheimer großen Wert auf die Fähigkeit zur Selbstkritik, bemüht sich um ein angenehmes Arbeitsklima, lässt Freiräume, fördert eine schnelle und gute Ausbildung seiner Mitarbeiter. "Bei mir gibt es einige Oberärzte", bekennt er freimütig, "die bestimmte Dinge besser operieren können als ich."

Dennoch, das chirurgische Fach und die hohen universitären Anforderungen setzen auch bei flachen Hierarchien Grenzen. "Strategische Entscheidungen behalte ich mir vor, da ist Schluss mit Diskutieren", betont der zweifache Familienvater. Er übe harte Kritik, wo sie angebracht ist, denn "Medizin funktioniert nur bei hundertprozentiger Disziplin." Und schließlich, auch in diesem Punkt unterscheidet sich Wolfgang Ertel nicht von der Mehrzahl seiner Vorgänger, fordert er ein hohes Maß an Leistungsbereitschaft, erwartet, dass seine Mitarbeiter neben dem strapaziösen Klinikalltag noch zusätzlich ein bis zwei Forschungsprojekte umsetzen.

Die Mischung aus liberalem Führungsstil, klaren Ansagen und hohem Anspruch kommt offenbar an. In den vergangenen vier Jahren hat die Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie unter Ertels Leitung sieben Forschungsprojekte bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft bewilligt bekommen und sich wissenschaftlich erfolgreich auf den Gebieten Schädel-Hirn-Trauma, Entzündungsforschung, Infektiologie und Knorpelzellforschung profiliert.

"Wenn Gelenke zerstört sind, bleibt heute nur die Prothese als Ausweg", erklärt Wolfgang Ertel. "Wir suchen neue biologische Wege, um natürlichen Gewebeersatz zu schaffen, zum Beispiel durch Knorpeltransplantation." Was die Forschungsleistung betrifft, geht der Chef mit gutem Beispiel voran: Über 370 Veröffentlichungen in Fachzeitschriften und Fachbüchern sowie zehn Wissenschaftspreise kann er vorweisen. Trotzdem, sagt Ertel, stehe er lieber im OP-Saal als dass er vor dem PC sitzt. Dort, mit Lupenbrille und Skalpell, hat der Neuberliner neben der Unfall- und Wiederherstellungschirurgie weitere Schwerpunkte in den Bereichen Hand-, Wirbelsäulen- und Beckenchirurgie gesetzt.

Wie Krankenversorgung und Forschung sich im Idealfall ergänzen, zeigt die Visite. Im Krankenbett liegt eine junge Frau, sie litt unter starken Schmerzen, weil an einer Stelle der Knorpel des Hüftgelenks verschlissen war und Knochen auf Knochen rieb. "In Anbetracht des Alters haben wir erst einmal auf eine Hüftprothese verzichtet und es mit einer Knorpeltransplantation versucht", erläutert Wolfgang Ertel. "Dafür entnahmen wir kleine zylinderförmige Knorpelstücke aus einer unbelasteten Stelle ihres Hüftkopfes und setzten sie an die defekte Stelle um." Drei Stunden dauerte der Eingriff, ein relativ neues Verfahren. Veröffentlichungen dazu seien ihm nicht bekannt, sagt Ertel.

Ein paar Zimmer weiter liegt eine ältere Patientin mit einem Beinbruch, der ursprünglich in einer Klinik außerhalb Berlins gerichtet worden war. Schief gerichtet, wie das Röntgenbild sehr deutlich zeigt. Ertels Abteilung hat die Fehlstellung jetzt in einer aufwändigen Operation korrigiert. "Solche Fälle bringen kein Geld, die werden gerne den Universitätskliniken überlassen", sagt Ertel und ist mitten drin im Thema, das ihn viel und leidenschaftlich beschäftigt. "Das Einsparpotenzial an den Unikliniken kann man nicht mehr weiter ausreizen, sonst werden wir eine Massenflucht unter den jungen Ärzten erleben", prophezeit der Mediziner. Noch kann Wolfgang Ertel mit einem "Trick" dagegen halten. Die Geheimwaffe des Ordinarius: gutes Arbeitsklima. Kostet nicht viel und ist hoch effizient.

Von Kerstin Ullrich