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Psychologin fragt nach den Angehörigen von Depressionskranken

Psychologin fragt nach den Angehörigen von Depressionskranken

„Aber wenn ich gewusst hätte, wie das Krankheitsbild der Depression aussieht, worin sich die Krankheit überhaupt äußert, woran man sie rückwärtig erkennen kann, dann hätte ich sie in den ersten Ansätzen bestimmt schon fünf oder sechs Jahre vorher erspüren können und zwei Jahre vorher ganz massiv“, äußerte Inge Jens, Familie-Mann-Spezialistin und Ehefrau von Walter Jens 2001 in einem längeren Interview in „Psychotherapie im Dialog“ über die schwere Erkrankung ihres Partners. Der Tübinger Rhetoriker Walter Jens hatte damals in der medienwirksamen Sendung „Biolek“ erstmals öffentlich über seine Depression gesprochen, die ihn 15 Jahre zuvor als Patient in das Tübinger Klinikum gebracht hatte.

Wie Inge Jens reagieren viele Angehörige von Patienten mit einer depressiven Erkrankung, die das veränderte Verhalten der Mutter, des Partners oder des Sohnes auf (Arbeits-)Stress, Beziehungsprobleme oder eine allgemeine Lebenskrise zurückführen. Dabei zählen Depressionen zu den häufigsten psychischen Störungen. Deutschlandweit litten in den vergangenen zwölf Monaten 6,3 Prozent der Bevölkerung an dieser Krankheit, deren Symptome sich unter anderem in Schlafstörungen, Antriebslosigkeit, schwerer Niedergeschlagenheit bis zur Suizidabsicht, Gewichtsveränderung, Verlangsamung des Denkens und Konzentrationsschwäche zeigen.

Auch heute begegnen dem Depressionskranken und seinen Angehörigen viele Vorurteile: Fünfzig Prozent der Bevölkerung bewerten Depressionen als Folge einer Charakterschwäche. „Vor allem für Angehörige von Depressionskranken ist es bei der verwirrenden Heterogenität der Symptome oft schwierig, die Krankheit des Partners von normalem Stress, Hektik, Sorgen und beruflichen Unsicherheiten zu unterscheiden“, erzählt Jeannette Bischkopf, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Klinische Psychologie und Psychotherapie der Freien Universität. Die promovierte Psychologin hat sich in ihrer jüngst veröffentlichten Studie einem bislang wenig untersuchtem Aspekt depressiver Störungen zugewandt – nämlich den Angehörigen. „Lang andauernde oder wiederkehrende Depressionen stellen die familiäre Zukunft in Frage“, sagt Jeannette Bischkopf: In einer Studie berichteten 41 Prozent der befragten Partner depressiver Patienten von finanziellen Einbußen auf Grund der Erkrankung, die bisweilen zur Erwerbsunfähigkeit führt. Häufig werden finanzielle Belastungen von Angehörigen aus Scham vor ihrer Umwelt ebenso tabuisiert wie auftretende sexuelle Störungen in der Paarbeziehung. „Depression ist Erstarrung, Leere, Wüste, Einsamkeit – unvereinbar mit dem Feuer einer Leidenschaft“, erzählt Jeannette Bischkopf und erläutert, wie eng depressive Symptome mit der Beziehungsgeschichte verwoben sind.

So liegt beispielsweise die Scheidungsrate von depressiven Patienten, die stationär behandelt wurden, neun Mal höher als die der Allgemeinbevölkerung. „Oft herrscht in Familien depressiver Patienten nicht nur ein kritischeres Klima als in anderen Familien, diese Kritik wird häufig auch sehr indirekt und verdeckt geäußert“, so Jeannette Bischkopf. Erkrankt ein Familienmitglied an einer Depression, stellt dies die ganze Familie auf eine Belastungsprobe und verändert das Familiengefüge. Denn auf einmal müssen Angehörige eine Vielzahl von Aufgaben stellvertretend für den Erkrankten übernehmen: Väter, die bislang nicht kochen konnten, greifen auf Grund der Depression ihrer Frau zum Kochlöffel; Frauen mit derpressiven Partnern versuchen sich beispielsweise bei Reparaturen im Haushalt.

„Bisweilen kann die Depression des einen Partners die Emanzipation des anderen stärken“, resümiert Jeannette Bischkopf: Oft fühlen sich Angehörige aber durch die zudem gesellschaftlich tabuisierte Krankheit überfordert und alleine gelassen, was daran liegt, dass es in Deutschland kaum Hilfsangebote für Angehörige gibt. „Das Spektrum an Möglichkeiten für Angehörige wäre schier unbegrenzt, wenn sich Familienangehörige erlaubten, auf sich selbst zu achten“, sagt Jeannette Bischkopf und rät mit anderen über die belastende Situation zu sprechen, Tagebuch zu schreiben, Freundschaften zu pflegen, sich beruflich selbst weiterzuentwickeln und Sport zu treiben. Ganz wichtig sei es, dass die Angehörigen von den behandelnden Ärzten und Psychologen über die Erkrankung aufgeklärt würden und offen über ihre Stigmatisierungserfahrungen und Ängste sprechen könnten. „Bislang gibt es in Deutschland kaum professionelle Angebote für Angehörige von depressiven Patienten“, bedauert die klinische Psychologin, „die einen selbstbewussteren Umgang mit der Volkskrankheit Depression üben.“

So bleiben es bedauerlicherweise bislang noch wenige, die wie Walter Jens über seine Depression folgendes resümmieren können: „Wenn die Kollegen mitunter sagen: Der ist ja in der Psychiatrie, konnte ich nur sagen: Von meinen großen Kollegen in der Literatur waren die meisten in der Psychiatrie. Ich wüsste fast keinen, der nicht in der Psychiatrie war.“

Jeannette Bischkopf. Angehörigenberatung bei Depression. Ernst Reinhard Verlag München, Basel 2005.

Von Felicitas von Aretin