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Die Kunst der Verkapselung

Rainer Haag konzipiert Nanokapseln, durch die Wirkstoffe an ihren Einsatzort gelangen sollen

Einige Umzugskisten stehen noch unausgepackt in seinem Zimmer im dritten Stock des Chemie-Gebäudes in der Takustraße. Ende letzten Jahres hat Rainer Haag dort seine C4-Professur für Organische und Makromolekulare Chemie angetreten.

Mit dem Auspacken lässt sich der Wissenschaftler Zeit, doch die bisherige Karriere des 37-Jährigen verlief rasant. Zuletzt hat er, noch von der Uni Dortmund aus, zusammen mit Felix Kratz von der Klinik für Tumorbiologie der Uni Freiburg, einen Nachwuchspreis für Nanotechnologie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) entgegennehmen können. Zuvor hat er an der Uni Göttingen promoviert, es schlossen sich Forschungsaufenthalte im britischen Cambridge und im amerikanischen Harvard an, bevor er sich in Freiburg habilitierte.

Im Zentrum des Forschungsinteresses von Rainer Haag stehen winzige Kapseln von wenigen Milliardstel Millimetern (Nanometer) Durchmesser. Die molekularen Nanokapseln dienen zum Transport von Substanzen, die aus medizinischen Gründen gezielt an bestimmte Stellen im menschlichen Körper gelangen und erst an Ort und Stelle freigesetzt werden sollen. Zum Beispiel eignet sich dieser Ansatz für Wirkstoffe, die sich gegen Tumorgewebe richten. Wenn man Krebsmedikamente intelligent verpackt, so hofft Haag, kann man möglicherweise Nebenwirkungen aggressiver Zellgifte vermindern und damit die Chemotherapie verträglicher machen.

Selbst im Nanobereich kann es dafür manchmal Vorteile haben, der Größte zu sein: „Aufgrund seines schnellen Wachstums ist Tumorgewebe sehr viel poröser, dadurch kann es große Moleküle einfacher aufnehmen, als gesundes Gewebe das kann. Etwas größere Moleküle von zehn bis 20 Nanometern Durchmesser, die das gesunde Gewebe nicht aufnimmt, bieten deshalb die Chance, ihre heilende Wirkung ohne Nebenwirkungen zu erzielen.“ Im Modell konnte schon gezeigt werden, dass die Makromoleküle Grund zu dieser Hoffnung bieten.

Auch die Struktur der Polymere ist dafür wichtig: „Baumartige Strukturen haben gegenüber langen, linearen Ketten den Vorteil, dass sie aufgrund ihres verzweigten Gerüsts für Kern-Schale-Architektur geeignet sind", erläutert Haag die Vorzüge der Nanotransporter mit der dendritischen Architektur. Der junge Chemiker hat ein solches Transportsystem, das auf einer mehrschaligen Struktur basiert, zum Patent angemeldet. Die Schalen haben unterschiedliche Eigenschaften, und nur wenn sie alle geknackt sind, wird der Wirkstoff freigesetzt, etwa im sauren Milieu des Tumorgewebes. Einer der praktischen Vorzüge: Das System kann flexibel für eine ganze Reihe zu testender Wirkstoffe genutzt werden, denn der Wirkstoff wird an seine Verpackung nicht mehr chemisch angebunden.

Das Preisgeld vom BMBF ermöglicht jetzt für drei Jahre die Weiterarbeit an einem Projekt, in dem es um intelligente Transportsysteme für Mittel gegen Krebs geht. Die Forschung wird zusätzlich durch die beteiligten Firmen Qiagen und Schering unterstützt. Am Ende hoffen die Forscher Klarheit darüber zu gewinnen, wie Nanopartikel beschaffen sein müssen, die nicht nur im Labor, sondern auch in vivo am richtigen Ort nach pH-abhängiger oder durch Enzyme bewerkstelligter Spaltung den Wirkstoff freisetzen.

„Vom Labor zur Klinik“, so heißt das BMBF-prämierte Projekt im Untertitel. Das klingt praxisorientiert. „Ich verfolge gern Ziele, die mit einer Anwendung verknüpft sind", bestätigt Haag. Im sprichwörtlichen Elfenbeinturm scheint er sich nicht wohl zu fühlen. „Ich glaube, dass der Bezug zur praktischen Anwendung auch junge Mitarbeiter motiviert.“ Deshalb legt er Wert darauf, dass in seinem Institut schon Praktikanten „Dinge untersuchen, die wirklich gebraucht werden“, statt chemisches L'Art-pour-l'Art zu betreiben.

Da liegt die Frage nach der Zusammenarbeit seiner Gruppe mit anderen FU-Forschern und vor allem mit den Medizinern von der Charité nahe. Die Möglichkeiten zur Bündelung von Aktivitäten und zur gemeinsamen Nutzung von Einrichtungen, so genannten „Core facilities“, gefallen Haag an seinem neuen Einsatzort in Berlin. Mit der Biochemie an der FU gibt es erste Verbindungen. „Und auch sonst gibt es einige Aktivitäten, in die wir gut hineinpassen würden“, deutet Haag mögliche Kooperationen vorerst nur an.

Was die Nanokapseln betrifft, so liegen weitere Einsatzbereiche in der Diagnostik. So können etwa fluoreszierende Farbstoffe gezielt in Gewebe eingeschleust werden. Für ein solches Projekt arbeitet die Gruppe von Haag mit der Berliner Firma Schering zusammen. Ein anderes ehrgeiziges Ziel, an dem sich andere schon die Zähne ausgebissen haben, besteht darin, RNA mittels biokompatibler Schalen gezielt in Zellen zu schicken. Das könnte eine Alternative zu den Versuchen mit Viren als „Gen-Taxis“ darstellen, die sich bisher als zu riskant erwiesen.

Dass er so jung schon Professor wurde, findet der freundliche, bescheiden wirkende Wissenschaftler mit den hellen Augen nicht weiter erstaunlich. „Gerade in den Naturwissenschaften hat sich in den letzten Jahren in Deutschland vieles sehr positiv verändert. Das ,Hochdienen‘ wurde glücklicherweise abgeschafft. Mentoren halten sich bei Publikationen dezent im Hintergrund, wer selbstständig arbeitet, wird früh auch von seinen Kollegen akzeptiert.“ Engagierte Nachwuchsforscher genössen alle Freiheiten, würden zugleich aber in den Instituten gut angeleitet und gefördert. In den USA sei der Nachwuchs früher auf sich gestellt. Doch die Systeme haben sich offensichtlich angenähert. „In Deutschland ist es heute keine Ausnahme mehr, wenn jemand sich innerhalb von drei bis vier Jahren habilitiert.“

Dass es ihn in die Naturwissenschaften ziehen würde, wusste der Chemiker ohnehin schon früh. „Diese Faszination wurde im Gymnasium geweckt. Ich fand es einfach spannend, Erkenntnisse zu sammeln, mit denen man die Naturphänomene verstehen konnte, die uns umgeben.“ Eigentlich müsste man damit noch viel früher anfangen, meint der Vater von zwei Vorschulkindern. Die nötige Neugier bringen ja alle kleinen Menschen mit. Als er noch in Dortmund gearbeitet hat, kam ein Mal im Jahr eine Kindergartengruppe ins Institut. Haag könnte sich gut vorstellen, die Tradition bald mit Berliner Kindern fortzusetzen.

Bei der diesjährigen „Langen Nacht der Wissenschaften“ hat der Forscher, der sich im Alltag im Nanobereich bewegt, riesige Seifenblasen entstehen lassen, die ganze Personen umschlossen. Alles im Dienst der wissenschaftlichen Nachwuchsförderung: „Was die Oberflächenspannung von Wasser bewirkt, können ja schon Kinder verstehen.“

Im Rahmen eines „Jugend-forscht“-Projekts und im Auftrag der Firma „Pustefix“ hatte er zuvor schon Schülern geholfen, Seifenlösungen zu testen und zu entwickeln, mit denen sich leichter solche gigantischen Blasen herstellen lassen. „Da muss man die Mischung viel feiner abstimmen als für die kleinen Blasen. „Seifenblasen-Professor“, wie ein großer deutscher Spiele-Hersteller ihn jüngst titulierte – das ist ihm aber doch ein wenig zu schillernd. Obwohl Gemeinsamkeiten der Riesenblasen mit den Nanokapseln nicht ganz von der Hand zu weisen sind.

In Haags neuem Arbeitszimmer ist, über den noch nicht ausgepackten Kisten, schon ein Aquarell aufgehängt. Auf den ersten Blick wirken die farbenfrohen Kreise, die darauf zu sehen sind, wie eine Veranschaulichung der molekularen Transportsysteme, deren medikamentöser Inhalt den Weg in eine menschliche Zelle sucht. Haag korrigiert diese Interpretation aber schnell: „Das sind Riesenseifenblasen, in denen winzige kindliche Figuren stehen.“ Das Bild wurde ihm von einem Dortmunder Kindergarten verehrt, der sein Institut besucht hatte.

Von Adelheid Müller-Lissner