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Wer liest, kauft andere Möbel

Die Schriftstellerin Herta Müller leitet die Autorenwerkstatt für junge Literaten


Das Bonmot liegt auf der Hand – es Müllert: Herta Müller wird die erste Heiner-Müller-Gastprofessorin, die im kommenden Sommersemester an der Freien Universität auf diesem Lehrstuhl lehrt. „Mit der Heiner-Müller-Gastprofessur für deutschsprachige Poetik ist der Berliner Literaturpreis verbunden“, erklärt Christa Müller, die Pressesprecherin der Stiftung Preußische Seehandlung, die sowohl die Gastprofessur als auch den hoch dotierten Berliner Literaturpreis gestiftet hat. Mit der Auszeichnung will die Seehandlung zeitgenössische deutsche Autoren fördern, die ihre schriftstellerischen Erfahrungen in einer Autorenwerkstatt an der Freien Universität an potenzielle Autoren weitergeben. „Die Heiner-Müller-Gastprofessor steht für eine Modernisierung der Literatur und nicht für die Pflege alter literarischer Schlachtrösser“, erzählt Gert Mattenklott, Professur für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Vorsitzender der Jury und fügt hinzu, dass den Juroren die Einbindung Ost- und Mitteleuropas besonders wichtig gewesen sei. Die Jury hat deshalb einen deutschen Schriftsteller internationalen Rangs gesucht, der sich wie Heiner Müller als „öffentlicher Intellektueller“ zwischen Ost und West versteht. „Erinnerung ist eine der beständigsten Aufgaben von Literatur. Im Werk von Herta Müller ist sie zu einem bedrückenden Memento verdichtet. In einer inneren Wahlverwandtschaft mit Werken von Aleksandar Tismar über Imré Kertész und Günter Grass bis Ruth Klüger bewährt sich ihr Erzählen als Anteil an der literarischen Grundsteinlegung für ein neues Europa, das nicht ohne das Bewusstsein der Leiden an den Diktaturen und ihren Demütigungen entstehen kann“, begründeten die Juroren ihre Wahl für die 1953 im rumänischen Nitzkydorf geborene Herta Müller, die dort der deutschsprachigen Minderheit angehörte.

Die Autorenwerkstatt mit Herta Müller startet im Mai und ist in Deutschland einmalig. „In der Autorenwerkstatt geben wir Jungautoren die Möglichkeit, sich im Schreiben zu erproben und die Texte anschließend mit renommierten Schriftstellern zu diskutieren“, erläutert Gert Mattenklott. Sich zu bewerben kostet deshalb einen gewissen Mut. Denn anders als bei den vielerorts angebotenen Kursen in creative writing will die Autorenwerkstatt bewusst Berliner Studenten fördern, die später als Schriftsteller arbeiten wollen.

Und da sind sie bei Herta Müller richtig. „Ich werde kein Seminar für Literaturkritik anbieten, dafür eigne ich mich nicht“, stellte die 52-Jährige vor kurzem auf einer Pressekonferenz resolut fest. Sie halte das Verhältnis von Germanisten zu Autoren für ähnlich fern, wie das Verhältnis von Schriftstellern zu Zahnärzten. „Mit Theorien kann man Leuten das Falsche einreden und das Richtige ausreden“, formuliert sie pointiert und fügt hinzu, dass sie mit ihren Textverbesserungsvorschlägen weder verletzen noch belehren wolle. Diese angenehme Vorsicht erklärt sich aus Müllers Werdegang. Denn: Welche Macht Sprache besitzt, wie sie von diktatorischen Systemen aller Welt genutzt wird, um Menschen kleinzumachen, weiß Herta Müller aus den über dreißig Jahren, in denen sie unter dem Diktator Nicolae Ceaucescu in Rumänien lebte. Auch ihr letztes, im Jahr 2003 im Hanser-Verlag erschienenes Buch mit dem poetischen Titel „Der König verneigt sich und tötet“ reflektiert auf vielfältige Weise den Sprachgebrauch der Mächtigen als Instrument der Unterdrückung. „Sprache war und ist nirgends und zu keiner Zeit ein unpolitisches Gehege, denn sie lässt sich von dem, was einer mit dem anderen tut, nicht trennen. Sie lebt immer im Einzelfall, man muss ihr jedes Mal aufs Neue ablauschen, was sie im Sinne hat“, heißt es in der ersten Erzählung des Essaybands. Schon in ihrem jahrelang in Rumänien verhinderten Buch „Niederungen“ karikierte Herta Müller das anachronistische Landleben der Banater Schwaben in Rumänien, was ihr vor allem von ihren Landsleuten heftige Kritik einbrachte. In Rumänien konnte das Buch 1982 nur von der Zensur verstümmelt erscheinen, die Originalausgabe kam zwei Jahre später in Deutschland heraus. Seitdem hat sie die traumatische Diktaturerfahrung nicht mehr los gelassen. Sie sei zwar von Rumänien losgekommen, nicht aber von den „Hinterlassenschaften der Diktatur“, erzählt die seit 1984 in Berlin lebende Schriftstellerin. Ihre stete Auseinandersetzung mit dem Postsozialismus war ein wesentlicher Grund, warum sich die drei Juroren Gert Mattenklott, Regisseurin Annette Reber (Maxim-Gorki-Theater) und Ulrich Janetzki (Geschäftsführer Literarisches Colloquium) für Herta Müller entschieden haben.

Im Banat gehörte Herta Müller der verfolgten deutschsprachigen Minderheit an, die ihre eigenen mitunter antiquierten Bräuche pflegten. „Meine Mutter wollte mich überreden, in Nitzkydorf als Schneiderin zu arbeiten“, erzählt Herta Müller und macht sich selbst darüber lustig, dass sie im Deutschen noch immer das „R“ wie im Rumänischen rollt. Doch statt zu nähen, studierte Herta Müller von 1972 bis 1976 Germanistik und Romanistik an der Universität von Temeschwar – wobei das Studieren im sozialistischen Rumänien vor allem im Auswendiglernen bestand. Später arbeitete sie als Übersetzerin in einer Maschinenfabrik, weigerte sich, mit dem berüchtigten Geheimdienst Securitate zusammenzuarbeiten, war unterschiedlichsten Repressalien ausgesetzt und teilweise als Deutschlehrerin beschäftigt. Die Ideologisierung der Schule habe ihr für Jahre ihre eigentliche Freude am Unterrichten vergällt, berichtet Herta Müller und versichert, dass sich diese Freude inzwischen wieder eingestellt habe und sie sich auf die Autorenwerkstatt sehr freue. Wer liest, sei ein anderer Mensch, der seine Kinder anders anziehe, sich andere Möbel kaufe und frei denke.
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DER STUDIENGANG

Verleihung an Herta Müller

Der Berliner Literaturpreis wird von der Stiftung Preußische Seehandlung an deutsche Schriftsteller verliehen und ist mit 30.000 Euro dotiert. Damit zählt er nach dem Büchner-Preis und dem Joseph-Breitbach-Preis zu dem dritthöchst dotierten Preis Deutschlands. Der Preis ist mit der Berufung auf die Heiner-Müller-Gastprofessur für deutschsprachige Poetik am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft verbunden. Mit dem Preis werden Schriftsteller ausgezeichnet, die die deutschsprachige Literatur bereichern. In einem Autorenkolleg berichten die Preisträger über ihre Schreiberfahrungen und diskutieren mit den Studenten deren Texte. Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit wird den Preis am 4. Mai im Roten Rathaus an Herta Müller verleihen.

Anmeldung zum Autorenkolleg:
Berliner Studierende können sich bis zum 17. April 2005 bewerben. Der Bewerbung muss ein tabellarischer Lebenslauf und ein Manuskript von höchstens zehn Seiten beigefügt werden. Eine Jury entscheidet über die Aufnahme. Die Zahl der Teilnehmer ist auf 20 begrenzt. Die Werkstatt beginnt am 2. Mai 2005 um 18 Uhr.

Bewerbungen sind zu richten an: Prof. Dr. Gert Mattenklott, Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin. Hüttenweg 9, 14195 Berlin.

Von Felicitas von Aretinn