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ERC Starting Grants: Vier Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Förderpreisen ausgezeichnet

Eine Neurowissenschaftlerin erforscht, was in den Köpfen von Nachtigallmännchen vorgeht, während sie singen.

06.10.2017

Außergewöhnliche Sänger: Nachtigall-Männchen liefern sich mit ihren Konkurrenten kein musikalisches Duell, sondern singen mit ihnen eher wie im Duett.

Außergewöhnliche Sänger: Nachtigall-Männchen liefern sich mit ihren Konkurrenten kein musikalisches Duell, sondern singen mit ihnen eher wie im Duett.
Bildquelle: wikipedia/Andreas Eichler/ Creative Commons: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de

Nachtigall, ich seh dich singen ...

Wenn Nachtigallmännchen im späten Frühjahr auf Brautschau gehen, kommt es allein auf ihre Stimme an. Während sie um die Gunst der Weibchen buhlen, ist es dunkle Nacht. Der Sängerstreit, der zwischen mehreren Männchen entbrennt, klingt aber weniger nach Duell, sondern wie ein gut einstudiertes Duett. „Ähnlich wie beim Gespräch zwischen zwei Menschen hört ein Männchen dem Gesang des anderen zu, bevor es antwortet“, erklärt die Neurowissenschaftlerin Daniela Vallentin. „Das zweite Männchen kann sogar den gleichen Gesang wiederholen. Es hat also genau gehört,was sein Konkurrent ihm vorsang.“ Auf „Nachtigallisch“ heißt das wohl so viel wie: Pah! Was du kannst, kann ich auch.

Das ist unter Vögeln außerordentlich. Zebrafinken oder Wellensittiche zum Beispiel zeigen kein Duett-Verhalten. Sie scheren sich nicht um den Gesang der Konkurrenz, singen nur frontal dagegen an. Daniela Vallentin will die Mittel des Europäischen Forschungsrats, die ihr gewährt werden, einsetzen, um auf neuronaler Ebene herauszufinden, warum das bei Nachtigallen anders ist und was genau dabei in ihren Köpfchen passiert.

An der New York University, wo Vallentin zuvor mit Zebrafinken arbeitete, hat sie ein winziges, nur 1,6 Gramm schweres Messgerät mitentwickelt, das sie Jungvögeln auf den Kopf setzt. Über eine haarfeine Elektrode, die in einen bestimmten Bereich des Gehirns implantiert wird, lässt sich die Aktivität einzelner Nervenzellen und deren Verbindungsleitungen, den Interneuronen, „abhören“, während der Vogel dem Gesang der Rivalen lauscht, ihn verarbeitet und darauf antwortet. „Das ist für die Tiere absolut schmerzfrei und beeinträchtigt sie nicht. Andernfalls würden sie auch gar nicht singen“, betont Vallentin.

Nachtigallen sind die einzigen Vögel, die nachts singen. Das hat eindeutig taktische Gründe, denn die Weibchen, die im Frühsommer aus Westafrika zurückkehren, migrieren in der Nacht. „Über den Gesang der Männchen können sie potenzielle Partner orten“, erklärt Vallentin. Jene beherrschen rund 200 komplexe Strophen, die jeweils zwei bis vier Sekunden lang und artspezifisch sind. Während sie ihre Arien in die Nacht schmettern, hockt das Weibchen, das selbst nicht singen kann, still im Gebüsch. Meist gewinnt der dominante Sänger ihre Gunst, der Verlierer zieht von dannen.

Daniela Vallentin, die seit einem Jahr die Emmy-Noether-Nachwuchsgruppe „Neuronale Grundlagen des Gesangerlernens bei Zebrafinken“ am Institut für Biologie der Freien Universität leitet, will im kommenden Frühjahr acht bis zehn wenige Tage alte Nachtigallen von Hand aufziehen. Diese Vogelart baut Bodennester, besonders gern in hohen Brennnesseln, und legt vier bis sechs Eier. „Wir werden an gefährdeten Nistplätzen, etwa in der Nähe von Hundeauslaufstellen oder Papierkörben, je ein Jungtier pro Nest entnehmen.“ Ob es Männchen sind, findet die Forscherin über einen Speicheltest heraus. „Wir halten allen kurz einen Löschblattstreifen an den Schnabel und analysieren das Sekret im Labor.“ Um später den richtigen Nesthocker herauszugreifen, wird jedem der Kopfflaum zuvor anders „frisiert“.

Im Labor werden den Vögeln ab einem Alter von drei Wochen Playbacks mit Gesängen ihrer Artgenossen vorgespielt. „Anfangs hören sie nur zu und lernen. Wir nennen das die sensorische Phase. Nach etwa fünf Monaten beginnen sie selbst zu üben“, erläutert die Wissenschaftlerin. Um den Sängerwettstreit im Labor nachstellen und studieren zu können, entwickelt Daniela Vallentin derzeit einen lernfähigen Vogelroboter, der den Nachtigallen wie in der Natur antwortet. Während des Streitgesangswird die Neurowissenschaftlerin die jeweils angesprochenen Nervenzellen bei der Arbeit „abhören“.

Daniela Vallentin, die an der Humboldt-Universität und Technischen Universität Berlin studierte, ist eigentlich Mathematikerin und kam durch einen Zufall zur Neurobiologie. „Für ein Projekt wurde jemand gesucht, der Rhesusaffen Mathe beibringt. Das fand ich spannend.“ Sie promovierte in Tübingen über „Die neuronale Repräsentation von quantitativen Mengen im Primatengehirn“. Zu den Singvögeln kam sie später am Medical Center der New York University.

Haben Nachtigallen sich einmal verpaart, singen sie übrigens wie alle anderen Vögel erst ab der Morgendämmerung. Ob ihre Lieder über den melodischen Klang hinaus eine Bedeutung haben – und wenn ja: welche – ist unbekannt.

Von Catarina Pietschmann

Schreiben jenseits der Grenzen

Palästinensische Literatur neu verorten

Die Geschichte der palästinensischen Literatur als eine Geschichte der Fragmentierung: Die Arabistin Refqa Abu-Remaileh interessiert sich für Literatur jenseits nationaler Konzepte und widmet sich palästinensischen Schriftstellern auf der ganzen Welt. Sie selbst ist in Jordanien geboren und aufgewachsen. Nach einem Studium an der University of British Columbia und der University of Oxford hat sie zunächst als Stipendiatin der Alexander von Humboldt-Stiftung sowie als Postdoctoral Fellow des Forums Transregionale Studien in Berlin und Marburg gearbeitet.

Für ihr neues Projekt wird Abu-Remaileh sowohl ein Forschungsteam als auch eine interaktive digitale Plattform aufbauen – beides gilt in der Literaturwissenschaft als äußerst ungewöhnlich. Der Europäische Forschungsrat (European Research Council, ERC) fördert das innovative Projekt mit einem der renommierten ERC Starting Grants für einen Zeitraum von fünf Jahren. Abu-Remaileh wird im kommenden Jahr beginnen, literarische Produktion und Rezeption palästinensischer Kultur nachzuvollziehen und neu zu verorten.

Bisher widmete sich die Forschung vor allemWerken aus bestimmten Gegenden oder Zeiträumen. Mit ihrem Projekt will Refqa Abu-Remaileh palästinensische Literatur verschiedener Regionen und Perioden zusammenbetrachten. Die Biografien der Autoren veranschaulichen ihren kosmopolitischen Ansatz: So lebte Mahmoud Darwisch nicht nur in Haifa, sondern auch in Moskau, Kairo, Beirut, Tunis, Paris, Amman und Ramallah. Aber auch die Texte selbst erzählen vom Leben zwischen den Welten: In dem Roman „Der Pessoptimist“ aus dem Jahr 1974 von Emile Habibi verkörpert der Protagonist Said die paradoxe Situation der Palästinenser in Israel.

Um solche Geschichten lebendig werden zu lassen, soll das digitale Projekt neben Ausschnitten aus schwer zugänglichen Texten und den biografischen Daten der Autoren auch eine interaktive Karte und einen Zeitstrahl mit literarischen Ereignissen enthalten sowie Briefe, Illustrationen und Fotos. Abu-Remaileh hofft, Zugang zu privaten Sammlungen im Nahen Osten und in Europa zu bekommen. „Dabei ist es genauso wichtig, die Leerstellen ausfindig zu machen, wie zu versuchen, diese zu füllen“, sagt die junge Forscherin. Die Methoden ihres Projekts könnten zum Vorbild für den Umgang anderer diasporischer Literaturen werden, relevant ist dabei auch die jüdische Erfahrung. Refqa Abu-Remaileh versucht, die Fragmentierung nicht fortzuschreiben, sondern die Gleichzeitigkeit von kultureller Produktion jenseits nationaler Grenzen zu erfassen.

Von Catarina von Wedemeyer

Zeiten des Protests

Das Projekt „Powder“ untersucht, wie neue Bewegungen unsere politische Ordnung verändern

Vielleicht wird der Beginn dieses Jahrhunderts als Ära der Proteste in die Geschichte eingehen. Weltweit formierten sich in den 2010er Jahren neue Strömungen unterschiedlichster politischer Prägung. Da war die „Occupy“-Bewegung, die nach der Finanzkrise von 2007/2008 den öffentlichen Raum in NewYork, London und Frankfurt am Main besetzte. Es gab den sogenannten Arabischen Frühling im Jahr 2011. Vielfältige Proteste gegen die Sparpolitik in der Eurokrise, etwa der „Indignados“ (Empörte) in Spanien oder der „Oxi“-Bewegung in Griechenland – übersetzt „Nein“ gegen die von den Gläubigern des Landes auferlegte Sparpolitik. Es entstanden rechtspopulistische Bewegungen wie die Montagsdemonstrationen der Pegida. Es gab Proteste von Geflüchteten, etwa auf dem Berliner Oranienplatz oder in der nordfranzösischen Hafenstadt Calais. Und neben den klassischen Straßenprotesten kamen erstmals massenhaft Formen des digitalen Protests auf.

Christian Volk, Professor für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin, wird in den kommenden fünf Jahren erforschen, wie diese neuen Bewegungen organisiert sind und welche Chancen und Risiken sie für die westlichen Demokratien bergen. POWDER ist der Name des Projekts, mit dem Volk einen ERC Starting Grant einwerben konnte: „Protest and Order. Democratic Theory, Contentious Politics, and the Changing Shape of Western Democracies“.

„Jede der neuen Bewegungen stellt westliche Demokratien vor spezifische Herausforderungen“, sagt Volk. „Sie verändern die Strukturen, unter denen Politik gemacht wird.“ Die Proteste von nichtregistrierten Migrantinnen und Migranten etwa stellten die Staatsbürgerschaft als Voraussetzung für politisches Handeln infrage. Der digitale Protest ermögliche es, sich anonym öffentlich zu äußern. Gleichzeitig stünden Grundprinzipien der politischen Ordnung zur Disposition. „Rechte Bewegungen wie Pegida brechen mit dem Wertefundament der westlichen Demokratie – dem Pluralismus“, sagt Volk. Linke Bewegungen hingegen stellten den Nationalstaat und seine Grenzen infrage: „Ihnen geht es um die Erzeugung einer kosmopolitischen Gegenöffentlichkeit.“

Vier Promovierende wird Christian Volk für sein Projekt anstellen. Jeder soll zu einem der vier Punkte arbeiten: selbstorganisierte Proteste von Migrantinnen und Migranten, digitale Proteste, rechte sowie linke Bewegungen. Die Doktorandinnen und Doktoranden erforschen die Bewegungen dabei nicht nur durch eine Dokumentenauswertung, also durch das Studium sämtlicher verfügbarer Publikationen und Diskussionen im Internet, sondern auch durch teilnehmende Beobachtung. Das heißt vor allem: auf Demonstrationen zu gehen.

„Wir wollen genau verstehen, wie diese Bewegungen im Inneren funktionieren“, sagt Volk. Damit sei es aber längst nicht getan. „Wir wollen auch untersuchen, was genau es bedeutet, dass diese unterschiedlichen Demonstrationskulturen in unseren Demokratien aufgekommen sind.“ Proteste, sagt Christian Volk, seien in der Geschichte der westlichen Demokratien oft Triebkräfte für weitreichende politische Veränderungen gewesen. „Wenn wir heutige Protestbewegungen verstehen, erfahren wir etwas über die Gesichter unserer Demokratien von morgen.“

Von Dennis Yücel 

Die schwierige Suche nach passgenauen Algorithmen

Anschubfinanzierung für Team der Informatik

Geometrische Algorithmen sind überall. Mit ihrer Hilfe lassen sich die schnellste Route zur Arbeit berechnen, der Standort des nächsten Geldautomaten finden oder ähnliche Muster vergleichen. Doch nicht für alle praktischen Aufgaben sind Algorithmen bekannt, die so schnell und genau arbeiten wie für die jeweilige Anwendung gewünscht oder benötigt. Dieser Herausforderung nimmt sich ein Team um den Professor für Theoretische Informatik, Wolfgang Mulzer, im Rahmen des von ihm eingeworbenen ERC Starting Grants „Complexity Inside NP – A Computational Geometry Perspective“ (Komplexität innerhalb von NP – Ein Blick aus der algorithmischen Geometrie) an. Das Kernteam besteht dabei aus vier Personen; zusätzlich werden Fachleute aus dem Ausland einbezogen.

„Für viele Probleme kennen wir keine Algorithmen, die auch bei sehr großen Eingaben effizient funktionieren“, sagt der Informatiker. „Warum das so ist, ist eine offene Frage.“ Zwei Ursachen seien für ihn denkbar: „Es könnte sein, dass die Anwendungen einfach als solche schwierig sind, es könnte aber auch sein, dass wir das Problem noch nicht richtig verstanden haben.“ Um zu begreifen, wie Algorithmen auf effizientere Weise programmiert werden können, müssen Wolfgang Mulzer und sein Team also zunächst gewissermaßen bis an die Wurzel eines Problems vordringen: „Wir müssen erst einmal verstehen, was ein Problem schwierig macht. Sobald wir das ergründet haben, können wir maßgeschneiderte Lösungen für die Aufgaben entwickeln, die wir wirklich lösen wollen“, erläutert er.

Als Beispiel für praktische Probleme, die mit geometrischen Algorithmen gelöst werden sollen, nennt der Forscher die Aufgabe, ähnliche geometrische Muster zu finden, oder die Antwort auf die Frage, wie weit zwei Personen in einem geometrischen Labyrinth voneinander entfernt sein können. Es sind solche klassischen Probleme zur Wegfindung, Mustererkennung und Gittererzeugung, denen Mulzer und sein Team auf den Grund gehen. „Wir wollen beispielsweise untersuchen, ob es Beziehungen zwischen verschiedenen schwierigen Wegfindungsproblemen gibt.“ Dies würde bedeuten, dass ein schneller Algorithmus für ein bestimmtes Problem zu schnellen Algorithmen für viele weitere Herausforderungen führt. Doch damit nicht genug: „Wir wollen auch Aufgaben betrachten, für die eine gute Lösung zwar mathematisch garantiert ist, der Wissenschaft aber kein Weg bekannt ist, diese effizient zu finden.“

Die Erkenntnisse, die sich der Informatiker für die geometrische Wegführung erhofft, sollen im Idealfall auch anderen Anwendungen zugute kommen: „Denkbar sind beispielsweise Fortschritte im Umgang mit großen Datenmengen sowie Entwicklungen in der Computergrafik und in der Robotik“, erläutert Wolfgang Mulzer. Die Förderung des ERC läuft bis zu fünf Jahre, also bis 2022. Auch ohne eine Glaskugel steht für Wolfgang Mulzer allerdings schon jetzt fest: „Algorithmen werden unser Leben 2050 noch mehr prägen als heute.“

Von Carsten Wette


Die Förderung

Zwei Wissenschaftlerinnen und zwei Wissenschaftler der Freien Universität Berlin haben in diesem Jahr einen hochdotierten ERC Starting Grant eingeworben. Die geförderten Projekte stammen aus den Fachgebieten Arabistik, Informatik, Neuro- und Politikwissenschaft. Mit dem Format ERC Starting Grant fördert der Europäische Forschungsrat (European Research Council, ERC) jährlich wegweisende Projekte von Forscherinnen und Forschern in einem frühen Stadium ihrer wissenschaftlichen Laufbahn. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, deren Promotion zwei bis etwa sieben Jahre zurückliegt, können an diesem Wettbewerb teilnehmen, sofern ihr Forschungsprojekt an einer europäischen Wissenschaftseinrichtung angesiedelt ist. Die Förderung umfasst eine Summe von bis zu 1,5 Millionen Euro über längstens fünf Jahre.