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Magier der Moderne

Vor 2000 Jahren starb der römische Dichter Ovid – die Latinistin Melanie Möller betreut ein Jubiläumsprogramm mit Diskussionen, Vorträgen und Lesungen

17.02.2017

Es gibt wohl kaum einen Autor, dessen Werk eine größere literarische Spannbreite aufweist als das des römischen Dichters Ovid. Im Jahr 43 v. Chr. in den Abruzzen geboren und vor 2000 Jahren unter mysteriösen Umständen verschwunden, hat sich der Römer mit fast allen Formen des Dichtens befasst: von der Liebeselegie über die erotische Lehrdichtung, vom Klagebrief über das Schönheitsrezept, vom beflissenen Versepos bis zur Tragödie oder zum Fluchgedicht.

Noch heute gehören seine Texte zu den Meisterwerken der Literatur – am bekanntesten sind die „Metamorphosen“. Dass sie ihn auf den Olymp der Literatur katapultieren würden, hatte der Autor selbst prophezeit: „Ein Werk habe ich vollendet, das weder der Zorn Jupiters noch Feuer noch Eisen noch das nagende Alter werden vernichten können.“

Seit Jahrhunderten analysieren Philologen Leben und Werk des Dichters, und trotzdem gibt es immer noch zahlreiche ungeklärte Fragen: War tatsächlich seine subversive Literatur der Grund dafür, dass Kaiser Augustus den Dichter im Jahr 8 n. Chr. ins Exil verbannt hat? Wie war Ovids Verhältnis zur Politik? Und wo verläuft in seinen Texten die Grenze zwischen Wahrheit und Fiktion?

Melanie Möller, Professorin am Institut für Griechische und Lateinische Philologie der Freien Universität Berlin, beschäftigt sich seit einigen Jahren intensiv mit Ovids Werk. Sie erklärt – zuletzt in einem gerade erschienenen Büchlein auf 100 präzise formulierten Seiten –, was dessen Faszination ausmacht und warum sich der Dichter zeitgenössischen Einordnungen widersetzt.

„Ovid hat eine klare Grenzziehung zwischen Kunst und Wirklichkeit stets vermieden“, erläutert die Literaturwissenschaftlerin. „Wir können nicht genau bestimmen, was in seinen Texten der ‚Wahrheit‘ entspricht und was nicht.“

Diese Unschärfe habe in der Forschung immer wieder zu Irritationen geführt: nicht zuletzt bei der Frage, unter welchen Umständen Ovid ins Exil ging. In seinem autobiografisch angelegten Spätwerk, den „Tristia“ („Trauergesänge“), die er im Exil am Schwarzen Meer geschrieben haben soll, bringt er den Grund für seine Verbannung auf die nebulöse Formel: „carmen et error“ („Gedicht und Fehler“).

Lange Zeit hatte die Wissenschaft vermutet, dass er damit auf sein erotisches Lehrgedicht „Ars amatoria“ anspielte, das Kaiser Augustus verstört haben soll. „Offenbar ist Augustus mit den Jahren sittenstrenger geworden“, sagt Melanie Möller.

Dennoch sei unklar, ob das Exil wirklich die Strafe für das Verfassen der „Ars amatoria“ gewesen sei. „Immerhin war der Text zu der Zeit bereits seit gut acht Jahren erhältlich. Außerdem war schlüpfrige Literatur seinerzeit nichts Ungewöhnliches“, sagt die Wissenschaftlerin.

War es also doch ein persönlicher, vielleicht ein politischer Fehler, der den Schriftsteller ins Unglück stürzte? Hat Ovid womöglich politische Weisungen nicht befolgt? Hat er Kaiser Augustus nicht ausreichend gehuldigt oder gar etwas Verbotenes gesehen?

Es gibt auch Wissenschaftler, die bestreiten, dass Ovid überhaupt verbannt worden ist. Was, wenn die ganze Sache ein einziger großer Schwindel wäre? Und der erste Marketing-Gag der Geschichte – frei nach dem Motto: „Willst Du gelten, mach Dich selten“?

Was auch passiert sein mag – das Lehrgedicht „Ars amatoria“ gehört jedenfalls zu den erlesenen Frivolitäten innerhalb der erotischen Literatur und könnte auch heute noch Sittenfromme in Verlegenheit bringen. Ovid gibt darin Ratschläge, wie sich Männer – und Frauen – im Liebesspiel zu verhalten haben, und lässt keine Gelegenheit aus, seine Anweisungen mit poetischer Sprachgewalt zu überhöhen.

Ovids Geschichten wurden die Grundlage für Hollywood-Filme

Ovid (43 v. Chr. - 17 n. Chr.), Porträt aus dem 17. Jahrhundert

Ovid (43 v. Chr. - 17 n. Chr.), Porträt aus dem 17. Jahrhundert
Bildquelle: akg-images / Fototeca Gilardi

Doch es sind die „Metamorphosen“, die Ovid unsterblich gemacht haben. In 15 Büchern mit je 700 bis 900 Versen (insgesamt sind es etwa 12.000) erzählt er sagenhafte Geschichten von Verwandlungen – zumeist von Menschen oder Halbgöttern, die zu Pflanzen, Tieren und Sternbildern werden – und bedient sich dabei eines reichen Fundus älterer Quellen aus der griechischen und römischen Mythologie. Bekanntes wird umgebildet, überspitzt, mit Erfundenem angereichert.

Die Rezeptionsgeschichte reicht von den Anfängen bis heute. Auch deshalb hat der Philosoph Hans Blumenberg die „Metamorphose“ als wichtigste Referenzquelle für das westliche Selbstverständnis bezeichnet: „Die europäische Phantasie ist ein weitgehend auf Ovid zentriertes Beziehungsgeflecht.“

Bekanntestes Beispiel ist die Geschichte über die Entführung der Königstochter Europa, in der sich Jupiter (in der griechischen Mythologie Zeus) in einen Stier verwandelt, um das schöne Mädchen zu bezirzen und zu vermeiden, dass seine Ehefrau Juno (die griechische Hera) vom Verrat erfährt. Er gewinnt die junge Europa durch die Schönheit seines weißen Fells und seiner Hörner – ein Zeichen für die Übermacht der Kunst gegenüber der Wirklichkeit.

Die Geschichte, die später zum Gründungsmythos des europäischen Kontinents werden sollte, verdeutlicht, dass sich nationale Identitäten immer auch auf Sprachbilder, poetische Fantasien und fabelhafte Geschichten beziehen – und nicht nur auf vermeintliche Fakten.

Ovids Verwandlungssagen sind derart vielgestaltig, kreativ und grenzüberschreitend, dass sie konstant zu Neudeutungen einladen. „Auch heute noch arbeitet sich Hollywood an den antiken Mythen ab, die wesentlich von Ovid geprägt wurden“, sagt Melanie Möller. Man denke an Filme wie „Troy“, „Herkules“ oder Episoden der Serie „Star Trek“.

Es gibt aber auch eine politische Dimension, die den Dichter aktuell macht. Man schaue nur auf die wachsenden nationalistischen Gruppierungen, die eine einseitige, eurozentrische Perspektive einnehmen. Wer wäre angesichts der gegenwärtigen politischen Debatten als Referenz besser geeignet als der römische Dichter, der als Identifikationsfigur für die europäische Kultur par excellence gilt?

Vor dem Versuch, Ovid für ideologische Positionen zu vereinnahmen, warnt Melanie Möller; dafür eigne er sich nicht. Nicht nur, weil es zu jener Zeit keine Nationalstaaten gegeben und die römische Identität vielfältige Grundlagen gehabt habe, sagt die Wissenschaftlerin.

Auch, weil Ovids Geschichten – und besonders jene in den „Metamorphosen“ – ein Potpourri aus disparaten Quellen seien: griechischen, römischen und asiatischen. Auch überschreite der Dichter traditionelle Vorstellungen von Gattungs- oder zeitlichen Grenzen; schlichten Lesarten verschlössen sich seine subtilen Texte, sagt sie.

Anlässlich des 2000. Todestages versucht die literarische Welt, das Rätsel Ovid ein wenig mehr zu lösen. An der Freien Universität und in Berlin finden dazu zahlreiche Veranstaltungen statt: von einem Podiumsgespräch über die Rolle, die Ovids Literatur für den Gründungsmythos Europa gespielt hat, bis hin zu prominent besetzten Lesungen und Darbietungen, Diskussionsrunden und Vorlesungsreihen.

Das Programm hat Melanie Möller konzipiert, eingeladen sind Schriftsteller, Schauspieler und Wissenschaftler. In einer Ringvorlesung im Sommersemester sollen lange vernachlässigte Aspekte in Ovids Literatur beleuchtet werden: etwa die poetische Rolle starker Frauen oder die Verhandlung transsexueller Identitäten.

„Ovid war seiner Zeit weit voraus und hat unsere Vorstellungen von Kunst und Literatur, vor allem von der Eigengesetzlichkeit des Ästhetischen wesentlich geprägt“, sagt Melanie Möller. Deshalb gelte: „Wer die moderne europäische Kultur begreifen will, kommt an Ovid nicht vorbei.“

Weitere Informationen

BIMILLENIUM

Ovid und Europa - das Programm

PODIUMSDISKUSSION „Ovid und die europäische Phantasie“, 3. März, 18 Uhr, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Jägerstr. 22; in Kooperation mit dem Zentrum Grundlagenforschung AlteWelt. Mit Hartmut Böhme, William Fitzgerald, Durs Grünbein, Valeska von Rosen, Jürgen Paul Schwindt; Moderation: Heike Schmoll/F.A.Z.

RINGVORLESUNG „Deconstructing Gender? Ovid und die Frauen“, 20. April bis 20. Juli, donnerstags 16 bis 18 Uhr, Habelschwerdter Allee 45, Raum J 32/102

OVID-FORUM „Lesungen und Vorträge“, 16. und 17. Juni, Freie Universität, mit Christian Demand, Wolfgang Hörner, Sibylle Lewitscharoff, Ulrich Noethen, Ernst Osterkamp, Tobias Roth und Gyburg Uhlmann

THEATER ANU: „OVIDS TRAUM“ 27. bis 29. Juli und 3. bis 6. August (ab 21.30 Uhr); Parkinszenierung ausgewählter Geschichten der Metamorphosen – Theaterinstallation aus Tanz, Skulptur, Soundcollagen. Tempelhofer Feld, Eingang Columbiadamm

WORKSHOP „Zwischen Kanon und Zensur: Ovid als Bildungsgegenstand“ 15. und 16. September, u. a. mit Michael von Albrecht, Michael Lobe, Stefan Kipf, Katarzyna Marciniak, Hans Jürgen Scheuer, Ulrich Schmitzer, Darja Šterbenc Erker und Michael Thimann; in Kooperation mit der Humboldt-Universität

JAHRESTAGUNG der internationalen Forschergruppe La poésie augustéenne Excessive Writing: Ovid in Exile, 14. bis 16. Dezember mit einer Lesung von Christoph Ransmayr („Die letzte Welt“)

SONSTIGES Schüler-Propädeutikum 2000 Jahre Ovid. Das Werk und seine Kontexte, 20. Februar bis 2. April Nachwuchsforum Latein Ovids Ibis, 29. April Beiträge zur Langen Nacht der Wissenschaften (24. Juni, Thema: Kalenderdichtung) und zum Girls’ Day (27. April) sowie zur Kinderuni (10. bis 14. Oktober)

Aktuelle Termine: www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/ovid